»Ich bin der Wirt«, rief Paul, »wer kauft Himbeerwasser? Paßt mal auf, ich gieße ein bißchen ins Wasser, und ihr trinkt da unten die Limonade aus. Das wird schon gehen.«
Einige Kinder legten sich lang ausgestreckt an den Bach und versuchten, mit den Lippen das Wasser zu erreichen. Paul goß am Ausfluß der Quelle langsam den Saft ins Wasser, das sich rötlich färbte. Zehn Kinder versuchten die süße Flüssigkeit zu trinken. – Da, ein Klirren! Paul, der auf einen vom Wasser überspülten Stein getreten war, glitt aus und suchte nach einem Halt, dabei glitt ihm die Flasche mit dem Saft aus der Hand und fiel auf einen Stein.
Mit einem Satz eilte er fort, denn er sah Pucki kommen, die achtsam einen Becher trug.
»Alles ist kaputt«, rief man ihr entgegen, »der Paul hat die Flasche zerschlagen!«
»Meine schöne Flasche! – Der dumme Junge!«
Sie entdeckte den Freund, der hinter dem Stamme eines Baumes hervorschaute. Schon stürmte Pucki herbei, um ihm eine Tracht Prügel zukommen zu lassen. Wildes Jagen setzte ein. Schließlich stolperte Paul, lag auf der Erde, Pucki stolperte über ihn, und beide Kinder wälzten sich in wildem Ringen auf dem Boden. Es setzte gegenseitig Püffe und Stöße, bis Pucki atemlos sagte:
»So, nu haste genug. – Warte, dafür esse ich die Schlagsahne. Unten steht eine große Schüssel voll. – Ich geh' jetzt hin. Wenn ich zuerst da bin, bekomme ich am meisten.«
In diesem Augenblick wurde zum Kaffeetrinken gerufen. Man hatte den Platz sehr nett hergerichtet. Mehrere Tischtücher waren auf dem Waldboden ausgebreitet. Darauf standen die Becher, die mit dampfendem Kaffee gefüllt waren. Neben jedem Becher lagen einige Stücke Kuchen. Frau Niepel hatte eine Schüssel Schlagsahne in der Hand und war dabei, jedem Kinde einen tüchtigen Löffel voll in den Becher zu geben.
Es mundete allen vortrefflich. Zwar wurde bald hier, bald da ein Becher vergossen, doch damit hatten die drei Erwachsenen gerechnet. Wider Erwarten ging das Kaffeetrinken gut ab. Die Kinder kauten mit vollen Backen, und die lebhafte Unterhaltung geriet ins Stocken.
Man war noch beim Essen, als das Auto des Oberförsters angefahren kam, das ihn und seine beiden Söhne, Claus und Eberhard, zu der Ruine brachte.
»Da komme ich ja gerade zurecht«, lachte der kinderliebe alte Herr. »Hat es geschmeckt?«
Pucki sprang sogleich dem großen Claus entgegen und erzählte ihm, daß er auch Himbeersaft hätte bekommen sollen, doch nun sei die Flasche kaputt.
»Wenn ihr mit Essen fertig seid«, rief der Oberförster mit weithin schallender Stimme, »gehen wir hinauf zur Waggerburg, zu der alten Ruine aus dem sechzehnten Jahrhundert. – Soll ich euch einmal die Geschichte von der Burg erzählen?«
»Ach ja – ach ja!« ertönte es vielstimmig.
»Wenn ihr schon einmal solch eine Ruine seht, müßt ihr auch deren Geschichte kennen, denn jede Burg hat ihre Geschichte. Das werdet ihr später in der Schule lernen. – Nun paßt mal gut auf. In der Waggerburg wohnte vor fünfhundert Jahren ein schlimmer Ritter mit seiner Schwester. Sie ließen keinen Wanderer in Ruhe. Wenn Leute auf der Straße vorüberzogen, kam der Ritter Kunibert herbei mit seinem Troß und den Landsknechten. Die nahmen die Leute gefangen und sperrten sie in die Waggerburg.«
»Sind die Leute nicht fortgelaufen?« fragte Pucki.
»Das konnten sie nicht, denn der Ritter und seine Schwester bewachten die Gefangenen.«
»War die Schwester auch so garstig wie der Ritter?«
»Ja, es war eine gar böse Frau. Sie half dem Ritter Kunibert, die Leute auszuplündern. Sie näherte sich ihnen mit freundlichen Worten, und da sie sehr schön war, mißtraute ihr niemand. Sie trug stets ein weißes Kleid mit langer Schleppe. Manchmal verschleierte sie sogar ihr Gesicht und sagte den Gefangenen, sie wolle ihnen zur Flucht verhelfen, wenn man sie wissen ließe, wo deren Angehörige wohnten. Zu denen wolle sie Boten senden, damit man ihnen zu Hilfe käme. Doch alles das war Lüge. Die böse Schwester wollte nur wissen, wo die Leute lebten. Dann schickte der Bruder Boten hin, um ein Lösegeld zu erlangen. Kamen die Verwandten der Gefangenen, wurden auch sie in den Turm gesperrt.«
»Pfui, ist das eine häßliche Gesellschaft.«
»Wenn ich gekommen wäre«, rief Paul, »ich hätte ein Messer genommen und die Frau mit dem weißen Kleide erstochen.«
»Hättest du dich nicht gefürchtet? Wenn der Ritter am Abend durch den Wald ging, liefen alle, die in der Umgegend wohnten, schnell fort, denn er war ein gar gefährlicher Mann.«
»Ha, ich wäre nicht weggelaufen, und seine Schwester hätte ich mächtig verkeilt. – Ich fürchte mich vor keinem, der durch den Wald geht.«
»Schließlich ist dem lieben Gott das schlimme Treiben des Ritters Kunibert zu arg geworden. Er ließ ein schweres Gewitter kommen, und der Blitz zerstörte die Waggerburg. Den Ritter Kunibert hat man tot unter den Trümmern hervorgezogen.«
»Die Schwester auch?« riefen viele Stimmen.
»Die Schwester war verschwunden. Es heißt, man habe sie später manchmal in der Ruine gesehen, in einem weißen Kleide und jammernd und wehklagend, weil es ihr sehr leid getan hätte, daß sie so schlimm gewesen war.«
Die Augen fast aller Kinder richteten sich ängstlich aus das alte Gemäuer.
»Ist sie jetzt auch wieder da?« fragte Pucki.
»Quatsch«, rief Paul. »Onkel Oberförster, ich weiß, daß du flunkerst, das ist ja Unsinn.«
»Na na, mein Junge, du würdest schon laufen, wenn die Weiße Frau käme.«
»Ich wollte, sie käme heute! – Paßt mal auf, wie ich mit der reden würde. – Die liefe im Galopp davon!«
»Ich kenne ein schönes Sprichwort«, sagte Claus, der älteste Sohn des Oberförsters, »es heißt: ›Löwenmaul hat Hasenherz.‹ Ich möchte der Weißen Frau im Walde nicht begegnen.«
»Feigling«, sagte Paul verächtlich.
»Der große Claus ist kein Feigling!« rief Pucki, »aber du bist ein Aufschneider. Du hast ja Angst, wenn dir der Knecht mit dem Besen droht. Das habe ich gesehen.«
»Aber vor 'ner Weißen Frau habe ich keine Angst. – Wollen wir jetzt nicht gehen? Ich möchte gern sehen, wo der Ritter die Leute eingesperrt hat.«
»Also los. – Wer mit mir zur Ruine gehen will, der komme zu mir.«
»Und wer nicht mitmachen will«, sagte Frau Gregor, »der bleibt hier, wir spielen jetzt zusammen.«
Die drei Niepelschen Jungen waren die ersten, die bei Oberförster Gregor standen. Dann folgten Pucki, Rose und drei andere Mädchen. Die anderen wollten nicht mit. Der schlimme Rittersmann hatte ihnen Angst eingeflößt.
»Ich möchte schon mit«, flüsterte das kleine Mariechen, »aber ich fürchte mich.«
»Komm nur, ich beschütze dich«, sagte Pucki. »Der böse Mann ist vom Blitz totgeschlagen. Aber das ist schon lange her. Er hat auch jetzt kein Gewehr mehr und kann nicht schießen. Er kann nicht mehr aus dem Hause kommen, und seine Leute sind auch schon lange tot.«
»Aber nun wollen wir gehen«, sagte der Oberförster.
»Kommst du mit, großer Claus?«
»Freilich, ich sehe Ruinen gern.«
So stieg die kleine Schar, geleitet von Oberförster Gregor, den Hügel hinan. – Die Waggerburg war nur noch schlecht erhalten, trotzdem konnte der Oberförster den Kindern die Reste des alten Turmes zeigen, in dem einstmals die Gefangenen geschmachtet hatten. Pucki stellte unzählige Fragen, denn sie wollte alles genau wissen. Paul meinte beständig:
»Das ist ja alles Schwindel. In so 'nem alten Hause hat überhaupt keiner gewohnt.«
Dann stellte er sich in die Ruine und rief mit lauter Stimme:
»Komm