»Darf man die pflücken, oder ist der Oberförster dann auch böse?«
»Man darf sie pflücken, aber nicht die Beinchen mit ausreißen. Sich mal, so macht man es.«
Sehr vorsichtig pflückte Pucki einige Blüten ab. »Daheim müssen wir sie in Wasser stellen, weil sie Durst haben. Und wenn sie jeden Tag frisches Wasser bekommen, lachen sie uns mit ihren Blumenaugen noch lange an und sagen: Dankeschön, daß ich zu dir in die Stube kommen durfte, denn hier ist es sehr hübsch.«
Alles das, was das kleine Försterkind sagte, war für Rose etwas vollkommen neues. Daß Blumen lachen und danken konnten, daß die Vögel durch ihr Gezwitscher den Menschen Botschaft zukommen ließen, hatte Rose noch niemals vernommen.
»Paß nur auf, was sie sagen. Wenn wir jetzt wieder nach Hause, kommen, werfe ich ihnen Krümchen hin, und gleich kommt ein großer Haufen an. Dann sagen die anderen: Piep, piep, gib mehr! Dann muß ich rasch gehen und noch viel mehr Krümchen holen, sonst sind sie mir böse.«
Das Füttern der Vögel bereitete Rose großes Vergnügen. Manches Tierchen hatte sie noch niemals gesehen, und aufgeregt fragte sie stets die Förstersfrau, was das für ein Vogel wäre, der einen leuchtend gelben Schnabel hätte und so komisch umherhüpfte.
»Eine Amsel, mein Kind.«
»Und der, vorne mit dem roten Latz?«
»Das ist ein Rotkehlchen. Du kannst es leicht an seinen zierlichen Bewegungen und an dem wippenden Schwanze erkennen. Wenn du abends einen gar süßen Gesang hörst, so weißt du, daß es fast immer das Rotkehlchen ist, denn es läßt seine Lieder bis zum späten Abend hören.«
So öffnete sich vor Roses Augen eine ganz neue Welt. Das Stadtkind aus dem Arbeiterviertel, das nichts vom Waldvogelgezwitscher wußte, konnte nicht genug staunen. Es war glücklich, wenn es im Garten sitzen, dem Gesang der Vögel lauschen oder ihnen Futter streuen konnte. Ach, wie herrlich alles hier war! Nur der eine Gedanke schmerzte, daß es mit allem, was sie hier sah, erlebte und genoß, bald wieder zu Ende sein würde.
»Mutti, sie ist gar zu ulkig, sie kann immerzu sitzen und gucken.«
»Laß sie ruhig sitzen, Pucki, Rose freut sich an der herrlichen Gotteswelt, die sie in ihrer ganzen Schönheit bisher nicht erblickt hat. Sei glücklich, daß du in einer so gesunden und schönen Gegend aufwachsen darfst.«
»Darum kriege ich auch kein Scharlach, wie die Freunde vom großen Claus.«
»Kleines Dummerchen! – Du wirst langsam erkennen, daß du es viel besser hast als alle die Kinder, die vor wenigen Tagen hierherkamen. Du hast immer dein gutes Essen, dein schönes Bettchen, den grünen Wald; das haben die anderen Kinder nicht. Jeden Tag siehst du, wie es Rose schmeckt, wie sie sich erfreut an den Tisch setzt.«
»Ja, Mutti, und wenn du ihr früh noch ein Butterbrot gibst, dann ißt sie es nicht auf.«
»So, – was macht sie damit?«
»Das verwahrt sie.«
»Wo verwahrt sie es denn?«
»Im Schrank, Mutti. Da hat sie schon eine ganze Menge.«
Mach dieser Mitteilung hielt Frau Sandler es für angezeigt, einen Blick in den Schrank des kleinen Mädchens zu werfen. – Tatsächlich fand sie darin eine Anzahl belegter Brote, sorgsam übereinandergelegt. Um alle war ein Stück Papier geschlagen.
Die Förstersfrau ging in den Garten hinaus, wo Rose spielte.
»Sage mal, mein liebes Kind, wozu legst du die Butterbrote, die ich dir gebe, in den Schrank? Wenn du satt bist und die Brote nicht essen kannst, brauchst du es nur zu sagen.«
Rose senkte errötend den Kopf.
»Es ist doch schade, wenn das Brot dort verdirbt«, meinte die Förstersfrau, »ich habe alles herausgenommen. In Zukunft darfst du keine Brote mehr in dem Schrank verwahren.«
Die Kinderaugen füllten sich mit Tränen. »Ich habe mich so gefreut.«
»Worüber, mein Kind?«
»Ich war doch schon satt, da wollte ich die Brote mit nach Hause nehmen. So schöne Brote haben sie dort nicht.«
»Aber Rose, du kannst doch die Brote nicht wochenlang verwahren, sie werden steinhart, und niemand kann sie mehr essen.«
»Wir essen immer hartes Brot.«
»Nein, Rose, die einzelnen Brotscheiben kann man nicht so lange aufbewahren. Und im Kleiderschrank darf man Eßwaren auch nicht aufheben. Ich gebe dir Wurst und Butter mit, wenn du heimfährst. Nun weine nicht, du hast es gewiß sehr gut gemeint, aber es wäre zwecklos, das Brot so lange Zeit zu verwahren.«
Wieder gab es für Pucki etwas zu staunen. Daß Rose Brot verwahrte, um es den Geschwistern mitzubringen, weil sie daheim nicht genügend zu essen hatten – das wollte nicht in ihr kleines Köpfchen hineingehen. Die Mutti hatte immer viel Brot, und auch bei Tante Niepel lagen stets große Brote in der Küche. Sie atmete schwer, als die Mutter ihr erzählte, daß es gar viele Menschen gäbe, denen das Brot fehle.
»Mutti, wollen wir dann nicht immer ein bißchen mehr kaufen und es den Leuten geben, die nichts haben?«
»Das überlasse den Erwachsenen, mein Kind. Jedenfalls wollte ich dir sagen, daß man mit dem Brot achtsam und sparsam umgehen muß, weil – –«
»Ich weiß schon, Mutti, weil es eine liebe Gottesgabe ist.« –
Der Schmanzbauer Gottlieb Teck besaß eine bescheidene Landwirtschaft, mitten im Walde. Die »Schmanz« war etwa eine halbe Stunde vom Forsthause Birkenhain entfernt. Ganz einsam lag das kleine Haus mit dem schmucken roten Ziegeldach. Schon der Großvater des Gottlieb Teck war in diesem Hause geboren, der Besitz erbte sich vom Vater auf den Sohn fort.
Der Schmanzbauer galt als ein seltsamer Mann, der keinen Umgang suchte und ganz für sich lebte. Seine beiden Söhne hatten sich ihre Berufe erwählt. Der Älteste fuhr zur See, der zweite hatte das Schlosserhandwerk erlernt. Michael, der Seefahrer, kam hin und wieder in das Elternhaus, und bei dieser Gelegenheit hatte Pucki den wettergebräunten Mann kennengelernt. Nun war Michael lange wieder fort.
Beim Schmanzbauer und dessen Frau lebte noch seine alte Mutter, die neunzigjährige Frau Teck. Bis in ihr hohes Alter war sie tätig gewesen, ein Bild unermüdlichen Fleißes und rastlosen Eifers. Nun ging es mit ihr bergab. Weder die Füße noch die Augen wollten mehr mitmachen, und Großmutter Teck war gezwungen, in der Stube zu sitzen. Nur stricken konnte sie noch, daher regten sich die alten Hände auch jetzt unermüdlich. Der Schmanzbauer und seine beiden Söhne brauchten sich über fehlendes Wollzeug nicht zu beklagen.
Die einzigen Besucher, die gelegentlich zur Schmanz kamen, waren die Försterleute Sandler. Hin und wieder statteten auch Niepels dem brummigen Alten, der ständig eine kurze Pfeife im Munde hatte, einen Besuch ab, doch der Schmanzbauer taute stets nur ein wenig auf, wenn Sandlers kamen. Sonst war er meistens stumm. Für Pucki hatte er jedoch stets ein freundliches Wort. Die Kleine mit ihrem hellen Kopf war ihm ans Herz gewachsen. Auch Pucki liebte den Schmanzbauer, der zwar recht brummig aussah, ihr jedoch noch nie ein böses Wort gesagt hatte.
Pucki freute sich daher auf den Besuch am heutigen Tage.
»Dort ist nicht nur Wald, Rose, dort wächst auch Getreide, und eine grüne Wiese ist ebenfalls da. Vielleicht sehen wir auch ein Reh, wenn wir durch den Wald gehen.«
Man machte sich auf den Weg. Sogar Förster Sandler begleitete heute die Seinen. Waltraut, die Zweijährige, blieb bei Minna daheim, während Pucki und Rose vergnügt neben den Försterleuten einherschritten.
»Wird die Schmanzgroßmutter sich über die Decke freuen!« sagte Pucki und packte die kleine Flechtarbeit immer wieder aus, um sie genügend bewundern zu können. »Die alte Frau hat ganz verschrumpelte Haut, Rose,