Pucki streichelte ohne jede Scheu dem großen Pferde den Kopf. »Aber wenn das kleine Pferdchen erst größer ist und auf den Beinen ganz fest steht, dann darf ich doch darauf reiten.«
»Das darfst du.«
»Und nun müssen wir die Rose holen, damit auch sie das niedliche kleine Pferdchen sieht.«
»Laß mal«, sagte der Bauer mürrisch, »es braucht nicht jeder in den Stall zu laufen, ich mag das nicht.«
»Wenigstens mal reingucken darf sie doch.« Und schon war Pucki fortgeeilt, um Rose zu holen.
Rose saß bei der Großmutter, hatte ein dickes Buch auf den Knien und las der alten Frau vor. Es ging zwar noch nicht gut, aber immerhin vermochte die Achtjährige doch schon zusammenhängend zu lesen. Hin und wieder mischte sich freilich ein Fehler ein.
Pucki blieb an der Tür stehen und schaute die Großmutter an. Der Strumpf, an dem sie gestrickt hatte, lag ihr im Schoße, die runzeligen Hände waren gefaltet. Wie das Gesicht der Großmutter glänzte, so, als habe sie eine große Freude!
Unentwegt las Rose weiter. Endlich hatte sie geendet. Die Lippen der alten Frau bewegten sich, dann sagte sie mit zitternder Stimme:
»Das war schön – ach, was habe ich für einen schönen Geburtstag gehabt, du liebes, kleines Mädchen. Daß du mir Blumen gebracht hast, war gewiß sehr lieb, aber daß du mir die frommen Sprüche vorgelesen hast, das ist ein noch viel schöneres Geschenk als alle Blumen. Eine so große Freude hat die alte Großmutter lange nicht mehr gehabt.«
»Freut es dich wirklich?« fragte Rose glücklich.
»Die Tochter hat keine Zeit, mir die liebe Heilige Schrift vorzulesen, und ich höre es doch so gern, ach, so gern. – Ja, das ist heute ein schöner Geburtstag! Der liebe Gott möge es dir lohnen, denn du hast mir das Beste geschenkt, was man überhaupt geschenkt bekommen kann.«
Noch immer stand Pucki regungslos an der Tür. Sie konnte sich nicht sattsehen an der Großmutter. Als ob ihr Gesicht voller Sonne wäre, so sah es aus. Und daneben Rose, und auch deren Augen leuchteten wundersam.
»Soll ich weiterlesen, Großmutter? Ich tu' es gern.«
»Ja, du liebes Kind, lies noch ein wenig. Dich hat der liebe Gott zu mir geschickt. Gerade heute hatte ich sehr großes Verlangen nach einem frommen Spruch. – Nun lies.«
Auf den Zehenspitzen kam Pucki näher. Dann setzte sie sich zu Füßen der alten Großmutter nieder und sah sie immerfort an.
»Ein so schönes Geburtstagsgeschenk«, murmelte die Alte von Zeit zu Zeit immer wieder. »Wie gnädig ist doch der liebe Gott.«
Pucki warf einen verstohlenen Blick auf ihre geflochtene Decke, die drüben auf dem Tischchen lag. Die Großmutter hatte sich darüber gefreut, doch ihr Gesicht hatte nicht so geleuchtet wie jetzt. Pucki erkannte daran, daß Rose der alten Frau etwas viel Schöneres geschenkt hatte als sie.
Als Rose mit dem Lesen zu Ende war, tasteten Puckis Fingerchen sich zu den verarbeiteten Händen der Alten hin.
»Großmutter – freust du dich immer so, wenn man dir was vorliest?«
»Ja, mein gutes Kind, es war gar zu schön.«
»Großmutter – –«, flüsterte Pucki ihr ins Ohr, so leise, daß es kein anderer hören konnte, »ich habe in der Schule nicht gern lesen lernen wollen, es ist so schwer, wenn's dich aber so freut, dann lerne ich es doch. Wenn die Rosel dann wieder fort ist, komme ich immer zu dir und lese dir das dicke Buch von vorne bis hinten vor, damit du dich tüchtig freuen kannst.«
»Du gutes, liebes Mädchen! Doch die Großmutter wird es wohl nicht mehr erleben, die Großmutter ist schon alt, sie wird bald sterben.«
»Nein, Großmutter, noch nicht, erst will ich dir das Buch vorlesen. Paß auf, ich lerne jetzt sehr fleißig.«
Auf dem Heimwege hing Pucki sich in der Mutter Arm. »Mutti, jetzt will ich tüchtig lesen lernen, die Großmutter sah so glücklich aus. Ich habe sie immerfort angesehen. Sie hat sich mächtig gefreut. – Denke mal, Mutti, sie hat sich sogar über das Vorlesen noch viel mehr gefreut als über meine Decke. – Wenn sie wieder Geburtstag hat, lese ich ihr das dicke Buch vor. Sie soll sich auch über mich freuen.«
Der Ausflug zur Waggerburg
Beim heutigen Mittagessen verkündete Förster Sandler den Kindern, daß Onkel Niepel am nächsten Sonntage mit allen kleinen Mädchen, die in der Oberförsterei und im Gutshause wohnten, einen Ausflug nach der Ruine Waggerburg machen wolle. Mit einem Leiterwagen, den man auf dem Gute prächtig ausschmücken würde, sollte die Fahrt nach der etwa zwei Stunden entfernt liegenden alten Burg unternommen werden. Erst bei Dunkelheit würde dann der Heimweg angetreten werden. Jedes Kind sollte außerdem einen Lampion erhalten.
Die Worte Sandlers riefen stürmische Freude hervor. Ein Ausflug, obendrein auf einem geschmückten Leiterwagen, und abends gar noch Lampions – alles das erschien Pucki wie etwas ganz Wunderbares.
»Vati, fahren wir sehr weit?«
»Ja, bis zur Waggerburg! Das ist eine Ruine, die auf einem kleinen Berge steht.«
»Was ist denn eine Ruine?«
»Eine alte Burg aus dem Mittelalter, die im Laufe der Zeit zerfallen ist.«
»Wohnt dort jemand?«
»Nein, Pucki, auf der Waggerburg wohnt schon lange niemand mehr.«
»Hat mal einer dort gewohnt?«
»Freilich, vor vielen, vielen Jahren lebten auf solchen Burgen Ritter und Grafen; manche von ihnen waren schlimme Gesellen, sie nahmen den Leuten, die die Straße daherkamen, alles fort. Auch von dem Ritter, der auf der Waggerburg lebte, erzählt man, daß er ein gefürchteter Raubritter gewesen sei.«
»Ein Raubritter? – Vati, was ist denn das?«
»Du weißt doch, was ein Raubtier ist, Pucki?«
»Ja, Vati, ein Tier, das in der Nacht und manchmal auch am Tage auf Raub ausgeht.«
»Sehr richtig, Pucki. Und ein Raubritter ist ein Mann, der auch auf Raub ausgeht.«
»Dann kann ich ihn nicht leiden, Vati.«
»In früheren Zeiten gab es solche Raubritter, jetzt aber nicht mehr. Man erzählt sich nur noch allerlei Geschichten von ihnen und von ihren Burgen. Fast jede alte Burg hat eine Sage.«
»Dürfen wir in die Burg hineingehen?«
»Freilich, aber es gibt da nicht viel mehr zu sehen als alte Mauerreste.«
Nun hockten die beiden Mädchen beständig zusammen und erzählten einander von der weiten Reise im Leiterwagen. Rose war voller Erwartung. Sie konnte sich einen derartigen Ausflug überhaupt nicht vorstellen.
»Mein Bruder steigt auf die elektrische Bahn, wenn er wegfährt, und ich bin mit der Eisenbahn gefahren. Aber mit einem Leiterwagen bin ich noch nie gefahren. – Es wird gewiß sehr schön sein.«
Gegen Ende der Woche kam Fritz Niepel ins Forsthaus, der ebenfalls sehr aufgeregt von dem Sonntagsausflug erzählte.
»Mit vielem Grün putzen wir den Leiterwagen aus, und die Mutter backt einen Napfkuchen, so groß wie ein Wagenrad. Draußen im Walde deckt sie dann den Kaffeetisch, und Tassen nehmen wir mit und viel Schlagsahne. – Und ich nehme auch was mit, das sage ich aber keinem, ganz was Feines!«
»Was nimmst du denn mit, Fritz?«
»Ihr müßt auch was mitbringen. Ich habe gehört, daß meine Mutter zu Tante Oberförster gesagt hat: Jeder bringt etwas mit.«
»Was soll ich