Rose lag noch in den Armen Frau Sandlers; sie war vielleicht die einzige, die in den letzten Minuten nichts sagen konnte. Pucki plauderte munter daraus los, sprach vom Wiederkommen, vom Schneemann, den man gemeinsam bauen wollte, und vielleicht käme auch sie mal und besuchte Rose. Aber das Stadtkind hörte kaum, was die kleine Freundin sagte.
»Du mußt nun einsteigen, mein Kind.«
Frau Sandler brachte Rose selbst in den Wagen. Es schien, als wollte sich das Kind an ihr festklammern. Dann saß es auf der Bank, ganz still für sich.
Mit schwerem Herzen stieg die Försterin aus dem Zuge. Am Fenster sah sie Rose nicht mehr. Aus dem fahrenden Zuge aber winkten gar viele Kinderhände ein letztes Lebewohl, und auch Pucki schwenkte ihr Taschentuch aus Leibeskräften.
»Mutti, kommt die bald wieder?«
»Hoffentlich im nächsten Jahre.«
»So, Mutti, nu müssen wir heim, jetzt muß ich lesen lernen, damit die alte Schmanzgroßmutter reich und glücklich wird.«
Obwohl Rose im Forsthause niemals Lärm gemacht hatte, erschien es allen darin in den nächsten Tagen still und einsam. Auch Pucki vermißte die Freundin überall, aber sie tröstete sich mit dem Schwesterchen, dem sie sich von nun an mehr widmete als bisher.
»Und jetzt, Mutti, muß ich in der Schule ganz genau aufpassen. Weißt du, die Schmanzgroßmutter will nur, daß ich lesen lerne, da werde ich in Zukunft nicht mehr so viel schreiben. Das brauche ich nicht, das kann die Schmanzgroßmutter doch nicht sehen.«
»Aber Rose wartet doch auf einen Brief von dir. Rose wird uns bald Nachricht von sich geben. Ich dachte, es würde dich freuen, wenn du deiner kleinen Freundin antworten könntest.«
Einige Augenblicke überlegte Pucki, dann nickte sie ernsthaft mit dem Köpfchen.
»Ja, dann wird wohl nichts anderes übrig bleiben, dann muß ich auch schreiben lernen.«
Ein schöner Spruch
Mit Pucki war seit den großen Ferien in der Schule eine staunenswerte Veränderung vor sich gegangen. Die Lehrerin, Fräulein Caspari, konnte sich nicht genug über den Eifer des Mädchens wundern, das, besonders im Lesen, überraschend schnell alle Mitschüler und Schülerinnen überflügelte. Wenn sie Pucki fragte, weshalb sie diesen Eifer zeige, so sagte sie stolz:
»Die Schmanzgroßmutter möchte gern reich und glücklich sein. Sie wartet auf mich.«
Der Leseeifer der kleinen Försterstochter trug ihr mitunter allerlei kleine Verletzungen ein. Auf dem Schulwege hatte Pucki stets das Buch vor der Nase, und nicht selten geschah es, daß sie plötzlich gegen einen Baum lief oder über eine Wurzel stolperte und hinfiel. Auch daheim griff sie nach allem Gedruckten, einerlei, ob es die Zeitung, der Mutter Kochbuch oder sonst ein Buch war, das irgendwo herumlag.
Bei diesem Eifer verging die Zeit recht schnell. Sie staunte, als die Herbstferien herankamen, freute sich, als der große Claus ihre Lesekünste bewunderte, und lief zur Schmanzgroßmutter, der sie allerdings mit ihren geringen Lesekünsten noch nicht viel bieten konnte.
»Warte noch, Schmanzgroßmutter, bis zu Weihnachten, dann kann ich noch besser lesen.«
Der Herbst verging, der erste Schnee lag auf den Zweigen der Tannen.
»Mutti, kann die Rose nicht zu Weihnachten herkommen?«
»Nein, Pucki, das geht nicht, doch im Sommer kommt sie wieder.«
Rose Scheele schrieb regelmäßig alle vierzehn Tage einen ausführlichen Brief. Aus jeder Zeile sprach die Sehnsucht nach dem Walde, nach den guten Förstersleuten, nach Pucki und Waltraut. Staunend lauschte die kleine Försterstochter den Berichten, die Rose gab. Alle die Pflichten, die Rose an ihren kleineren Geschwistern erfüllte, waren für Pucki neu und ungewohnt. Rose konnte schon eine Stube auskehren, sogar aufwischen, sie pflegte die Mutter, als sie krank war, hatte nebenbei Schule, machte ihre Schularbeiten und versuchte, kleine Näharbeiten zu machen.
»Mutti, was sie alles kann, das kann ich nicht.«
»Du bist auch zwei Jahre jünger, mein Kind, außerdem hast du es auch leichter im Leben als Rose, die keinen Vater hat, der für sie sorgt.«
»Ach, wie traurig!«
»Zu Weihnachten wollen wir Rose und ihre Geschwister beschenken, damit auch im Scheeleschen Hause eine richtige Weihnachtsstimmung herrscht.«
Weihnachten! Das war ein Wort, das Pucki in Begeisterung versetzte. Das Weihnachtsfest blieb doch das schönste aller Feste, und ungeduldig zählte sie nun die Tage bis zum vierundzwanzigsten Dezember. Aber vorher gab es viel zu bedenken. Vater und Mutter sollten ein Weihnachtsgeschenk bekommen. Die Kinderhände strickten unter schweren Seufzern der Mutter einen Topflappen für die Küche. Minna mußte oft helfen, wenn eine Masche von der Nadel fiel oder wenn in der Baumwolle ein Knoten war. Pucki stöhnte oft laut bei ihrer Arbeit, doch der Gedanke, daß sich die Mutti über ihr Geschenk freuen würde, ließ sie nicht ungeduldig werden.
Vati bekam etwas ganz Feines! Einen Aschenbecher aus dünnen Stäbchen. Innen war eine schöne gelbe Schale. Pucki hatte schon manches Stäbchen zerbrochen, und es erschien ihr sehr schwierig, all die kleinen, dünnen Hölzchen in die rechte Lage zu bringen. Doch nun war auch diese Arbeit beinahe beendet.
Draußen fiel der Schnee in großen Flocken und bedeckte den Waldboden. Sehr oft wurde Pucki im Niepelschen Schlitten nach der Schule gefahren. Das war eine Freude, wenn das weiße Pferdchen herangeklingelt kam.
»Es hat den Schnee gern, Mutti, weil der Schnee auch weiß ist. Kommt der Weihnachtsmann mit dem Weihnachtsbaum auch mit einem weißen Pferdchen?«
»Nein, der Weihnachtsmann bringt den Baum auf dem Rücken.«
»Wirft er ihn dann wieder auf das Dach vom Holzstall wie damals, als es Weihnachten war?«
»Das wird er wohl tun.«
»Au, Mutti, wenn aber der Onkel Oberförster den Weihnachtsmann trifft? Na, dann schimpft er aber, wenn der Weihnachtsmann gerade den Weihnachtsbaum umhackt. Den Vater von Grete hat er auch ausgeschimpft, als er sich einen Baum holte.«
»Der Weihnachtsmann darf so viele Bäume holen, wie er braucht. Doch der Vater deiner Schulfreundin Grete hätte erst um Erlaubnis fragen müssen.«
An jedem Abend, ehe die Kleine zu Bett ging, stand sie ein Weilchen am Fenster und wartete, ob sie vielleicht den Weihnachtsmann zu sehen bekäme.
»Ein komischer Mann, Mutti, er braucht doch nicht in der Nacht herumzulaufen, er kann doch kommen, wenn es hell ist.«
An einem Morgen lag der Weihnachtsbaum wirklich wieder auf dem Dach des Holzstalles. Pucki schrie vor Freude laut auf.
»Oh, nu wird es endlich Weihnachten! Ich kann's auch gar nicht mehr aushalten.«
Eine große Freude hatte Pucki stets, wenn die Mutter nach Rahnsburg ging, um einzukaufen. Oftmals durfte Pucki sie begleiten. Man kaufte vielerlei ein: Für Rose und deren Geschwister, für Minna, für den Vati, für die Waschfrau. Pucki sah sich interessiert die Auslagen an. Während die Mutter mit dem Geschäftsinhaber sprach, stand Pucki vor einem Wandbrett, auf dem der schöne Spruch eingebrannt war:
»Beglücke du, so wirst du glücklich sein.«
Pucki buchstabierte mühsam daran herum, denn die Buchstaben waren mitunter mit kleinen Schwänzchen versehen. So dauerte es eine ganze Zeit, ehe sie den Spruch ernsthaft vor sich hinsagte:
»Be – glücke du, so wirst du glücklich sein.«
Als sie mit der Mutter den Laden verließ,