»Paul, wo bleibst du denn?« rief der Oberförster. »Wir wollen den kleinen Weg, der fast verwachsen ist, hinabsteigen. Das war früher der Schleichweg, den der böse Ritter benutzte, um ungesehen hinab auf die Straße zu kommen.«
»Ich komm' schon!«
»Hu – – hu – – hu – –« klang es plötzlich hinter dichtem Gebüsch. Ein weißer Arm zeigte sich. »Hu – hu – – hu – Ritter Kunibert, wo bist du, mein Bruder!«
Das Messer entfiel Pauls Händen, dann begann er zu laufen, sprang in langen Sätzen hinter den anderen her und schrie gellend:
»Die Weiße Frau, die Weiße Frau!«
Der Oberförster blieb sofort stehen und sah in die angstgeweiteten Augen des großsprecherischen Jungen.
»Bei dir ist es wohl nicht ganz richtig?«
»Ich hab' sie eben gesehen – ich hab' sie gehört. – Sie war da.«
»Das ist doch Unsinn!«
»Ich – hab' – sie – gesehen.«
Die Kinder drängten sich an den Oberförster. Eines der Mädchen begann zu weinen.
»Na, na, immer hübsch vernünftig sein«, sagte der alte Herr beruhigend. »Es gibt keine Weiße Frau, und hier kann euch schon gar nichts passieren. Will gleich mal sehen, was den Paul erschreckt hat. Wahrscheinlich hängt im Gebüsch ein Stück Papier, und ein Waldvogel hat gerufen. – Komm mit, mein Junge.«
»Nein, nein – –«
»Ich denke, du fürchtest dich nicht?« sagte Pucki. »Du hast doch gesagt, du wolltest die Weiße Frau totstechen.« Langsam schob sie ihr Händchen in die rechte Hand des großen Claus, als habe sie bei ihm den besten Schutz.
»Wo ist Eberhard?« Oberförster Gregor sah sich suchend um; laut rief er nach seinem zweiten Sohne.
Wenige Augenblicke später stand der Gerufene neben dem Vater. Er zog sich gerade die Jacke an.
Der Vater betrachtete seinen Sohn mit forschendem Blick. »Was hast du eben gemacht?«
»Ich habe das Großmaul Paul in Angst und Schrecken versetzt. – Soll ich euch noch mal die Weiße Frau vorspielen?«
»Nein, nein«, klang es vielstimmig.
Doch schon hatte Eberhard die Jacke wieder ausgezogen, schob den Arm durch zwei Tannen und begann zu heulen: »Hu – hu – – hu – – Ritter Kunibert, wo bist du, mein Bruder!«
Da begannen die Kinder zu lachen. Alle Angst war verschwunden, nur Paul stand beschämt in einiger Entfernung da. Er hatte sich arg blamiert.
»Du Hasenfuß«, sagte der Oberförster.
»Hasenfuß – Hasenfuß«, rief die kleine Schar und umsprang Paul, der mit gesenktem Kopf an einem Baume stand.
»Das hast du davon, mein Junge. Wer gar zu sehr prahlt, zieht immer den Kürzeren. Hast du denn nicht gesehen, daß es ein Hemdsärmel war? – So, und nun wollen wir wieder hinabsteigen und zu den anderen Kindern gehen.«
Paul schlich ein großes Stück hinter den übrigen her. Pucki wandte sich mehrmals nach ihm um.
»Großer Claus, er schämt sich. Ich will ihm sagen, daß er sich nun genug geschämt hat. Ich will mal zu ihm gehen.«
Pucki wartete auf den Freund, dann redete sie ihn an.
»Es ist ja nicht so schlimm, Paulchen, mußt dich nicht ärgern. Ich hätte mich auch mächtig gefürchtet. Aber totstechen hättest du die Weiße Frau doch nicht dürfen. Es ist schon besser, du hast sie am Leben gelassen. – Und nun komm.«
Pucki legte den Arm um den Hals des Knaben und schritt mit ihm abwärts dem Platze zu, auf dem die Zurückgebliebenen lustig sich mit Kreisspielen vergnügten.
Köstliche Stunden waren es, die man hier verlebte. Alle Kinder waren mit Leib und Seele dabei, sogar Paul, der sonst gern zu Extrastreichen aufgelegt war. Die vorhin empfangene Lehre schien seinen Übermut gedämpft zu haben. Niemand brauchte ihn heute zur Ordnung zu rufen.
Endlich mahnte Frau Niepel zum Heimfahren. »Es beginnt zu dunkeln, und unterwegs können wir die Lampions entzünden.«
»Brennt mir aber nicht den Wald an«, mahnte der Oberförster, der am Auto stand, denn auch er wollte mit den Seinen heimfahren.
»Ich paß' gut auf, Onkel Oberförster«, sagte Pucki. »Der Harras und ich haben schon mal aufgepaßt.«
Es war eine herrliche Heimfahrt. Zwar brannten unterwegs mehrere Lampions auf, doch selbst das beeinträchtigte die frohe Stimmung der Kinder nicht. Man bedauerte es allgemein, als der Wagen vor dem Niepel-Gutshause hielt und der schöne Ausflug ein Ende fand. Aus aller Augen strahlte das Glück, und für die Stadtkinder würde der heutige Tag eine bleibende Erinnerung sein.
So schön war es noch nie, meinten alle. Man konnte sich gar nicht trennen. Drüben stand der Wagen aus der Oberförsterei und dort der Kastenwagen, der Frau Sandler mit ihren beiden Mädchen ins Forsthaus zurückbringen sollte. Man hatte sich noch sehr viel zu erzählen.
Schließlich mußte Frau Niepel ein Machtwort sprechen. Das weiße Pferdchen zog zwei glückliche Kinder der Försterei entgegen. Pucki und Rose hüteten ihre bunten Lampions sorglich.
Der Förster empfing die Seinen vor dem Hause.
»War's schön?«
»Vati, so schön war's, daß ich gar nicht sagen kann, wie. Alle die vielen Worte, die ich sagen möchte, sitzen fest im Halse und können nicht 'raus.«
»Hat es dir auch gut gefallen, Rose?«
Wortlos barg das glückliche Stadtkind sein Gesicht an des Försters Brust. Der herrliche Ausflug am heutigen Tage war für das Kind das Schönste gewesen, was es bisher erlebt hatte.
Ach, Scheiden ist ein Wort so schwer
Nur zu schnell vergingen die schönen Ferientage. Der Schulanfang kam in immer bedrohlichere Nähe, und oft konnte Pucki ihre neue Freundin Rose beobachten, wie sie im Garten stand und mit schwermütigen und sehnsüchtigen Blicken Wald und Flur betrachtete. Alles das würde wie ein schöner Traum verschwinden. Jetzt ging es wieder zurück in den engen Hof, in die kleinen Stuben, in denen Mutter und Geschwister lebten. Sie würde bald nicht mehr das Rauschen der hohen Tannen, nicht mehr das Zwitschern der Vögel hören.
Rose öffnete den Mund weit, sie sog mit Behagen die würzige Waldluft ein. Das tat wohl! Ihr war es, als bekäme sie dadurch Stärke und Kraft, sie wurde ordentlich ein anderer Mensch. Rose beneidete Pucki, beneidete alle Kinder, die den Wald so nahe hatten. Was wußten die von den engen Höfen der Großstadt, in die kaum ein Sonnenstrahl fiel. Hier draußen war überall Sonne. Man brauchte nur vor die Haustür zu gehen, ach nein, man brauchte nur das Fenster zu öffnen – es war wundervoll! Wie gut hatte sie es gehabt, was konnte sie alles den Geschwistern daheim erzählen. Wie ein Märchen würde es ihnen erscheinen, und sie, Rose, war die verwunschene Prinzessin, die all das Schöne hatte genießen dürfen.
Frau Sandler strich dem kleinen Stadtkinde liebevoll über das Haar. Sie ahnte, was in dem Herzen des kleinen Mädchens vorging.
»Wenn es uns allen gut geht, wenn wir gesund bleiben, kommst du im nächsten Jahr wieder zu uns in den Wald.«
»Liebe Tante Sandler, du liebe, gute Tante, ich, ich –«. Rose begann zu weinen. Das Herz wollte ihr schier zerspringen. Sie dachte an die bevorstehende Trennung, an den Abschied von diesen guten Menschen, von Wald und Vögeln.
»Ein Jahr vergeht