Als Pucki am heutigen Tage mit den beiden Niepelschen Knaben heimfuhr, trieb Paul vor Freude allerlei Unfug. Der Kutscher mußte den übermütigen Knaben oftmals zurechtweisen, um ihn zur Ruhe zu bringen.
»Den Ranzen schmeiße ich in die Ecke, dort mag er während der Ferien liegen bleiben. Ich hab's satt! – Fünf Wochen brauche ich nichts zu lernen!«
»Wirst schon zu Ostern sitzenbleiben«, sagte der Kutscher.
»Wenn du den lieben Gott recht schön bittest, läßt er dich nicht sitzenbleiben.«
»Er wird schon sitzenbleiben«, sagte Fritz. »Der liebe Gott hört nicht immer auf das, was man gerne haben möchte.«
»Doch! Der liebe Gott hört immer darauf.«
Fritz schüttelte den Kopf.
»Morgen kommt das kleine Mädel aus der Stadt, na, die werde ich ärgern!«
»Nein, Paul, das darfst du nicht, das ist ein Mädchen, das noch keinen Wald gesehen hat und ganz arm ist und ohne Freude im Herzen. Du kannst die anderen ärgern, aber nicht das kleine Mädchen. Ich darf es auch nicht.«
»Ich mach's aber doch!«
Der Kutscher erhob die Peitsche und drohte dem Paul. »Dein Vater wird schon aufpassen. Morgen hole ich die Kinder ab.« – –
Der erste Juli kam heran. Pucki war voller Erwartung. Sie dachte es sich wunderschön, mit dem großen Claus und dem Stadtmädchen in den Wald zu laufen. Frau Sandler, die anfangs ihren Schützling hatte abholen wollen, war im letzten Augenblick verhindert. Es genügte aber auch, wenn Frau Niepel nach Rahnsburg fuhr und Pucki mitnahm. Vor dem Forsthause würde der Wagen halten, und Pucki und das Ferienkind absetzen.
Pünktlich traf der Wagen ein: Pucki stieg ein, dann ging es nach Rahnsburg zum Bahnhofe.
Sehr artig und brav spazierte das Försterkind neben Frau Niepel auf dem Bahnsteig auf und ab. Endlich fuhr der Zug fauchend und dampfend in die Halle.
»Werden wir das Mädchen auch finden, Tante Niepel?«
Es stiegen anfangs nur wenige Reisende aus, dann aber sah man aus einem Wagen ein junges Mädchen herausspringen. Es trug eine weiße Haube.
Ein Kind nach dem anderen stieg aus, und bald umstanden zwanzig kleine Mädchen die Führerin, die suchend umherblickte.
»Schau, Pucki«, sagte Frau Niepel, »eines von diesen zwanzig Kindern wird es sein. Ein kleines Mädchen für dich, ein anderes für mich. Wir wollen fragen.«
Das junge Mädchen mit dem weißen Häubchen gab die gewünschte Auskunft. Es bringe herzliche Grüße von der Volkswohlfahrt; sie sei Frau Sandler sehr dankbar, daß sie gleich zwanzig Kinder aufnehmen wolle.
»Zwanzig Kinder?«
»Jawohl, ich bringe den Transport nach Rahnsburg. Hier sind die Kleinen. Sie haben wohl die Güte, gemeinsam mit mir die weitere Unterbringung zu übernehmen.«
»Zwanzig Kinder?«
»Frau Sandler schrieb, daß sie zwanzig Mädchen haben möchte, die zum Teil auf das Gut, zum Teil ins Forsthaus kommen sollten.«
Frau Niepel stand ratlos da. Bisher hatte Frau Sandler immer nur von zwei Kindern gesprochen. Was sollte man mit den vielen Kindern beginnen? Oder hatte Frau Sandler sich im letzten Augenblick noch in Rahnsburg und den umliegenden Forsthäusern bemüht, die Kleinen unterzubringen, wie das von der Organisation anfänglich gewünscht worden war?
»Es ist wohl das beste, die Kleinen marschieren nach dem Forsthause Birkenhain. Es ist nicht weit, kaum eine Viertelstunde. Frau Sandler soll dann selbst die Anordnungen treffen, denn ich bin nicht im Bilde.«
»Tante Niepel, kriegen wir nu alle die Kinder?«
»Nein, Pucki.«
»Ich habe den Brief bei mir«, sagte die Führerin. »Wenn Sie sich überzeugen wollen, daß zwanzig Kinder gewünscht wurden –«
Die Gutsbesitzerin nahm den Brief, den Frau Sandler geschrieben hatte. – Richtig, hier stand, und zwar dick unterstrichen, daß zwei Mädchen gewünscht wurden. Doch hinter der deutlichen Zwei sah man eine mit Bleistift gemalte Null, so daß kein Zweifel bestand, daß zwanzig Kinder erwartet wurden.
»Es ist das beste, wir machen uns auf den Weg, liebes Fräulein. Die Kleinen sind gewiß nicht böse, wenn sie nach dem langen Sitzen im Abteil ein Stück durch unseren schönen Wald laufen dürfen. Im Forsthause wird sich alles klären.«
»Tante Niepel, ich glaube, die vielen Kinder kommen nu doch alle zu uns! Ach, wo sollen die denn schlafen? Ach, wird das ein Ulk werden!«
Pucki ahnte nicht, daß sie schuld war an diesem Irrtum. Sie hatte geglaubt, daß sie der Großmutter ein Küßchen schicke und hatte den Kuß auf den falschen Briefbogen gemalt, hatte die Null unmittelbar hinter die »2« geschrieben, ohne zu wissen, was daraus entstand.
Frau Niepel ließ den Wagen mit den kleinen Koffern der Kinder hinterherfahren. Sie ging neben der Begleiterin. Pucki dagegen beäugte die kleinen Mädchen. Keines gefiel ihr so recht, die Kinder sahen recht blaß aus und hatten trübe Augen. Endlich tippte sie ein schmächtig aussehendes Mädchen mit dem Fingerchen an und sagte:
»Trinkst du gern Milch? Du kannst auch immer meinen Milchreis haben; dir schenke ich ihn gern.«
Doch die Angeredete hatte nicht den Mut, auf diese Frage zu antworten. Die kleine Schar war überhaupt sehr schweigsam.
Frau Sandler stand wartend an der Gartenpforte und blickte mit Staunen den Näherkommenden entgegen. – Was wollten die vielen fremden Kinder hier? Diese blassen, dürftig ernährten Großstadtmädchen, die wohl zu den Ärmsten der Armen gehörten?
»Hier bringe ich Ihnen zwanzig Kinder, Frau Sandler«, rief Frau Niepel ihr entgegen.
Abermals wurde der Brief hervorgeholt. Da wurde es Frau Sandler klar, daß Puckis Kuß an die Großmama alles das verschuldet hatte.
»Lieber Gott, was machen wir nun?«
»Mutti, Mutti«, jubelte Hedi, »ein Kindchen sollte kommen, nun sind es so viele geworden! Mutti, na, da muß die Minna gleich Waffeln backen.«
Frau Sandler war ratlos. Die Führerin wollte mit dem Abendzuge wieder abreisen. Die Kinder konnten unmöglich in dem Forsthause und ebenso wenig in dem Gutshause untergebracht werden. Jetzt galt es zu handeln.
Der Reihe nach wurden die Forsthäuser telephonisch angerufen. Aber auch in Rahnsburg fragte man bei zahlreichen Familien an, ob sie nicht wenigstens für die nächsten Tage ein oder zwei erholungsbedürftige Stadtkinder aufnehmen wollten.
»Sehen Sie, liebe Frau Niepel«, sagte Frau Sandler schuldbewußt, »das ist die Strafe für meine Nachlässigkeit. Damals bat man mich, zu versuchen, einige arme Kinder unterzubringen. Ich habe es verabsäumt. Nun sind mir durch einen unglücklichen Zufall zwanzig Kinder zugeschickt worden.«
»Vier Kinder will ich abnehmen, und der Förster in Lindengrund hat auch zugesagt, dann sind da der Apotheker, der Arzt, der Gutsbesitzer Gehm und der Spediteur Runge. Ich denke, bis zum Abend hat sich alles geklärt.«
Sechzehn Kinder blieben zunächst im Forsthause. Dort gab es für alle Milch und Butterbrote. – Ganz plötzlich sprang Pucki, die zwischen ihnen saß, auf.
»Großer Claus – großer Claus, sieh mal, wieviel Kinder wir bekommen haben. Wir hatten noch mehr, die hat Tante Niepel mitgenommen.«
Als Frau Sandler den Primaner erblickte, beschloß sie, ihm ihre Not zu schildern. Die Oberförsterei war groß, und Oberförster Gregor und seine Frau waren gutherzige Leute.
Der große Claus