Auch nicht, wenn sie sich noch fünfzig weiterer guter Eigenschaften vor Augen führen würde.
Freundschaft ja, Liebe nein!
Und da sie ahnte, dass Freundschaft ihm niemals reichen würde, strich sie auch die.
Sollte es mit Linda und Andreas in diesem rasantem Tempo weitergehen, sollte diese Beziehung halten, würden sie sich zwangsläufig immer wieder begegnen. Lars und Andreas waren Freunde, und sie betrieben gemeinsam ihr Architekturbüro.
Ach, nein!
Sie musste sich darüber den Kopf nicht zerbrechen. Derzeit sah Linda in Andreas den Prinzen, nicht mehr den Frosch …, den hatte sie vorher auch bereits das eine oder andere Mal gesehen, und plötzlich war aus dem Prinzen wieder der Frosch geworden.
Es war gut, dass alles so gekommen war.
Sie unterhielt sich noch eine ganze Weile mit Lars Bergmann, achtete aber penibel darauf, dass er aus keinem ihrer Worte etwas ableiten konnte, was Hoffnungen in ihm erweckte.
Sie wünschte ihm nochmals alles Gute, hoffte, er möge nicht nur einer der Nominierten, sondern der Preisträger sein, dann beendete sie das Gespräch.
Hoffentlich hatte Kommissar Schuster inzwischen nicht versucht, sie zu erreichen.
*
Leonies Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Und dann war es auch nicht der Kommissar, der sie anrief.
Es war Mike Bär. In dem schien sie wirklich einen Fan gewonnen zu haben. Wieder war er mehr als freundlich, als er sie fragte, ob sie um vierzehn Uhr ins Kommissariat kommen könne.
Hauptkommissar Schuster erwarte sie dann.
Sie konnte, bedankte sich bei dem jungen Mann und vertrödelte die nächsten Stunden mehr oder weniger.
Wenn man unter Termindruck stand, verflog die Zeit nur so, wenn man etwas erwartete, erfahren wollte, zog sie sich zäh dahin wie Kaugummi.
Leonie war zehn Minuten vor der verabredeten Zeit vor dem Polizeipräsidium, und sie hielt sich dort auch nicht auf, sondern wanderte schnurstracks hinauf in die erste Etage, wo sich das Büro des Kommissars befand. Sie kannte sich hier mittlerweile aus.
Glück gehabt, der Kommissar war da, stand bei ihrem Eintreten auf, begrüßte sie lächelnd, freute sich sie zu sehen.
Wenn sie das geahnt hätte, wäre sie, weiß Gott, früher gekommen.
Aber wie auch immer, jetzt war sie da und brannte vor Neugier.
Sie wollte keinen Kaffee, nichts, was sie ablenken, was das hier verzögern konnte.
»Herr Schuster, gibt es zwischen dem erschossenen Mafia-Boss und Carlotta Perucci einen Zusammenhang?«, platzte sie denn auch sofort heraus.
Er schien sich zu amüsieren, denn ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ja. Tonino Lombardi ist einer der Männer, die Richter Perucci verurteilt hat. Und um Ihrer nächsten Frage vorzubeugen …, er scheint nicht hier gewesen zu sein, um nach Carlotta zu suchen, sondern der Pizzeriabesitzer gehört zu dem Clan, der sich den Lombardis in den Weg gestellt, der ihnen wichtige Geschäfte entrissen hat. Die Kollegen ermitteln noch. Ich habe Sie auch nicht gebeten herzukommen, um mit Ihnen darüber zu reden. Sondern ich hatte Ihnen versprochen, Sie in die Akte der italienischen Kollegen blicken zu lassen.«
Er schob ihr einen Aktendeckel hinüber, der so gut wie keine Gebrauchsspuren zeigte, was darauf schließen ließ, dass mit dem Fall nicht viel gearbeitet worden war.
Kommissar Schuster stand auf.
»Ich lasse Sie jetzt wohl am besten allein. Da alles auf Italienisch ist, kann ich Ihnen eh nicht helfen …, möchten Sie nicht doch einen Kaffee?«
Sie nickte, und während er hinausging, um den Kaffee zu holen, strich sie behutsam über den Aktendeckel.
Sie würde gleich mehr über Carlotta erfahren, vor allem würde sie gleich mehr sein als nur ein Name …, sie würde ihr Bild sehen.
Natürlich hatte sie sich mehr als nur einmal vorgestellt, wie sie wohl aussah, aber nichts hatte ein Bild ergeben.
Mike Bär brachte ihr den Kaffee hinein.
»Ich habe auch ein paar Kekse dazugelegt, Frau Gräfin«, er betonte die Gräfin nachdrücklich, und Leonie hätte am liebsten angefangen zu kichern, weil es so unvorstellbar schien, dass man einen so coolen jungen Mann durch einen Adelstitel beeindrucken konnte.
»Das ist wunderbar, Herr Bär, vielen Dank«, sagte sie herzlich, und da es den Anschein hatte, dass er so schnell nicht gehen würde, klappte sie den Aktendeckel auf.
Da begriff er.
»Falls Sie sonst noch etwas brauchen, Frau Gräfin«, sagte er und schaute sie bewundernd an, »ich bin gleich nebenan.«
Dann ging er endlich.
Leonie war aufgeregt, sie überflog die ersten Seiten. Es war der Polizeibericht, genauer gesagt, der Todesermittlungsbericht. Der war in Italien vermutlich nicht anders als in anderen Ländern. Er war lang und umständlich und …, langweilig. Es war doch verrückt, sich jetzt selbst zu quälen.
Sie blätterte weiter, bis sie zu den Fotos kam. Zuerst den Tatortfotos, dann denen der einzelnen Personen, die hingerichtet worden waren. Ja, hingerichtet, anders konnte man es nicht nennen.
Der Richter Salvatore Perucci, ein klug aussehender Mann, seine Frau Milena, eine hübsche, typische Italienerin, die, als sie fröhlich in die Kamera geblickt hatte, mit der das Foto aufgenommen worden war, nicht hatte ahnen können, dass ihr Leben so bald und auf so grausame Weise vorbei sein würde.
Carlottas vier Brüder, die zwei Schwestern …
Hübsche junge Menschen, die das Leben noch vor sich hatten, ein privilegiertes Leben, denn die Peruccis waren nicht nur eine angesehene, sondern auch eine wohlhabende Familie gewesen.
Von den Großeltern und den beiden Tanten, die ebenfalls Opfer des Massakers geworden waren, weil sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort befanden, gab es keine Fotos.
Sie blätterte weiter. Und da war es. Das Foto Carlottas. Eine bildhübsche, strahlende, unbekümmert lachende Frau, die zu fragen schien – Nun, was kostet die Welt?
Das Foto schien kurz vor der Tragödie gemacht worden zu sein. Vielleicht nach bestandenem Examen?
Leonie sah genauer hin, und da entdeckte sie auch die kostbare Kette, die Carlotta mit in den Tod genommen hatte. Das Geschenk ihrer Eltern zum bestandenem Examen. Diese Kostbarkeit, die von dem Juwelier Roberto Tozzi nur für sie allein angefertigt worden war. Dieses Unikat, das die Identifizierung der Leiche leichter gemacht hatte.
Carlotta Perucci …
Ein schmales Gesicht, braune Locken.
Eine wunderschöne, kluge junge Frau, an deren Wiege viele gute Feen gestanden haben musste, leider auch eine böse, die ihr diesen Leidensweg, die Einsamkeit, das bittere Ende vorausgesagt hatte.
Welch ein Schicksal … Welch ein Leben …
Leonie konnte nicht länger in dieses strahlende, schöne Gesicht sehen, und sie konnte auch kein zweites Mal die Fotos der Familie betrachten.
Sie klappte den Aktendeckel zu.
Der Kaffee war inzwischen kalt geworden, sie schob die Tasse beiseite und war froh, als Kommissar Schuster in sein Büro zurückkam.
»Danke, dass ich die Fotos sehen durfte«, sagte sie mit vor innerer Anspannung heiser klingender Stimme. »Welch eine Tragödie …«
Paul Schuster setztet sich.
»Frau von Tenhagen, Sie dürfen es nicht so nahe an sich herankommen lassen.