Darauf konnte sie gut und gern verzichten, aber das durfte sie nicht laut sagen.
»Und Carlotta …, ist ihre Leiche bereits freigegeben worden?«, wollte sie wissen.
Er nickte. »Nicht nur das, sie wurde bereits beerdigt.«
»Und wer …, ich meine, wann und wie …«
Er wusste, dass ihr das, was er jetzt sagte, überhaupt nicht gefallen würde. »Menschen, die keine Angehörigen haben, nicht das Geld für eine selbst bestimmte Beerdigung besitzen, werden auf Kosten der Stadt beigesetzt.«
»Und wo?«
Sie sollte aufhören, solche Fragen zu stellen.
»Auf dem Zentralfriedhof.«
»Und unter welchem Namen wurde sie beerdigt? Unter ihrem richtigen, oder unter ihrer neuen Identität …, unter Förster?«
Er zögerte.
»Weder …, noch …, diese Beerdigungen sind anonym, am Rande des Friedhofs, an einer Mauer.«
Es war unerträglich.
»Nach alldem, was sie mitgemacht hat, nach diesem lange Leidensweg wurde Carlotta verscharrt wie ein Hund.«
Jetzt übertrieb sie.
»Frau von Tenhagen, ich bitte Sie …, natürlich sind es ordentliche Beerdigungen, nur alles ein wenig schlichter, ein wenig platzsparender. Um die Menschen, die dort liegen, hat sich doch schon zu deren Lebzeiten niemand gekümmert. Warum also ein normales Grab, eventuell auch noch mit Stein …, die Kommunen haben eh kein Geld, die Armut in der Bevölkerung nimmt zu, die Kosten explodieren.«
Das wollte sie nicht hören.
»Kann man Carlotta wieder ausgraben? Ich würde die Kosten übernehmen, dafür sorgen, dass sie ein richtiges Grab bekommt.«
»Frau von Tenhagen. Es ist ein richtiges Grab …, und bedenken Sie bitte eines. Die Frau hat viele Jahre ihres Lebens in der Anonymität gelebt. Sie wissen doch überhaupt nicht, ob es ihr recht wäre, wenn man ihre wahre Identität jetzt ans Licht zerrt.
Und mal ehrlich, sie ist tot, unter der Erde. Lassen Sie sie dort in Frieden ruhen …, wenn Sie unbedingt Geld loswerden wollen, dann geben Sie es den Lebenden. Es gibt genug Elend, auch hier bei uns in der Stadt. Da ist das Geld besser aufgehoben. Das mag für Sie vielleicht jetzt im ersten Moment zynisch klingen. Aber so ist es.«
Sie hatte ihm zwar kaum zugehört, aber der Sinn seine Worte war schon zu ihr durchgedrungen.
Weil sie nicht sofort antwortete, fuhr er leise fort: »Frau von Tenhagen. Man darf solche Fälle nicht zu sehr an sich herankommen lassen. Natürlich ist das, was die Familie, was diese junge Frau erlebt hat, erschütternd. Aber es ist nur ein Fall von vielen. Leider!«
Er hatte recht.
Sie riss sich zusammen, weil sie ja wirklich nichts mehr für Carlotta tun konnte.
»Ich möchte gern an Carlottas Grab …, bringen Sie mich hin, Herr Schuster?«
Er zuckte die Achseln, ahnte, dass sie eh keine Ruhe geben würde.
»Es ist nicht ein Grab, und es ist dort auch kein Namensschildchen zu finden«, warnte er.
Sie nickte. »Dennoch …, ich habe das Gefühl, dass es für mich erst dann zu Ende sein wird, wenn ich an dieser Mauer gestanden habe.«
Er stand auf. »Also gut, dann kommen Sie. Bringen wir es hinter uns. Ich sag nur rasch den Kollegen Bescheid.«
Leonie war froh, dass sie mit ihm nicht durch die anderen Büros gehen musste. Den beflissenen Mike Bär könnte sie jetzt nicht ertragen, eigentlich niemanden.
Sie hatte die Fotos der Peruccis vor Augen, ganz besonders das von Carlotta und wusste nicht, wann diese Bilder wieder verblassen würden, die der glücklichen, gut aussehenden Menschen, deren Leben auf so grausame Weise zerstört worden war.
Glück … Unglück … Freude … Schmerz … Es lag dicht beieinander, nur niemand wollte es wahrhaben.
Leonie wusste zwar, dass es den Zentralfriedhof, diesen städtischen Friedhof gab, aber sie kannte niemanden, der dort beerdigt war. Er war groß, unpersönlich.
Sie mussten eine Weile laufen, ehe sie an die besagte Mauer kamen, und eigentlich war das, was sie da sah, auch nichts Dramatisches. Es war anonym, spartanisch. Die Gräber der Menschen, die schon länger da lagen, waren mit schnell wachsendem, billigem Bodendecker bewachsen.
Die Gräber derjenigen, die erst neu beigesetzt worden waren, waren nur platt geklopft.
Es war ein breiter Streifen, was auf mehrere Gräber hindeutete, und eines davon musste das von Carlotta sein. Sie hatten kaum miteinander gesprochen, und jetzt sagte Paul Schuster nun: »Ich denke, ich lasse Sie jetzt besser allein, Frau von Tenhagen.«
Er gab ihr die Hand.
»Wir hören voneinander.« Er war zwar ein Polizeihauptkommissar bei der Mordkommission und durfte in seinem Job keine Gefühle zeigen. Doch hin und wieder hatte sie bemerkt, dass sich unter der rauen Schale ein weicher Kern befand und dass er eine große Sensibilität besaß, die er gerade jetzt in diesem Augenblick wieder bewies.
Sie wollte allein sein! »Danke, Herr Schuster …, danke für alles«, murmelte sie und war froh, dass er ihr zunickte, sich abwandte und ging.
Unter seinen Füßen knirschte der Kies, dann wurde es still.
Leonie war allein. An diese Stelle verirrte sich keiner.
Hier also lag Carlotta Perucci. Genauso unauffällig wie im Leben war sie im Tod.
Leonie versuchte nicht herauszufinden, welches der frischen Gräber, an welcher Stelle genau, Carlotta lag.
Sie hatte eine weiße Rose mitgebracht und eine Kerze.
Sie legte die Rose in die Mitte der frischen Gräber, zündete die Kerze an, dann betete sie, verlor sich in Erinnerungen, nahm Abschied von Carlotta, und sie wusste, dass es ein Abschied für immer war.
Leonie kannte opulente Grabanlagen, prächtige Familiengräber. Sie bewegte sich privat in hohen Adelskreisen, da besaßen die meisten sogar neben ihren herrschaftlichen Wohnsitzen Privatfriedhöfe.
Dieses hier so gar nichts, diese triste Anonymität griff ans Herz, und als irgendwo in der Nähe ein Vogel zu zwitschern begann, war es kaum mehr auszuhalten.
»Ruhe in Frieden, Carlotta«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, dann stolperte sie davon.
Auch sie hatte in ihrem Leben Höhen und Tiefen erlebt. Sie hatte ihre Eltern verloren, die große Liebe ihres Lebens. Doch sie war niemals allein gewesen, sie war aufgefangen worden von ganz viel Liebe …
Sie blickte hinauf in den strahlend blauen Himmel. »Danke, lieber Gott, danke dafür, dass es mir so gut geht«, flüsterte sie.
Das musste jetzt einfach sein.
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