Paul Schuster war es nicht.
Der Anrufer war … Lars Bergmann.
Normalerweise hätte sie sich gefreut. Doch in diesem Augenblick konnte sie ihn wirklich nicht gebrauchen.
Entsprechend kühl fiel demzufolge ihre Begrüßung aus.
»Oh, störe ich Sie, Frau von Tenhagen?«, erkundigte er sich besorgt.
Pluspunkt für ihn.
Er war ein feinfühliger Mensch.
Und sie bekam ein schlechtes Gewissen.
»Nein, nein …, ich bin nur bei einem etwas schwierigem Kapitel, das meine volle Aufmerksamkeit erfordert«, versuchte sie sich herauszureden.
»Dann sollten Sie nicht ans Telefon gehen, liebe Leonie …, ich weiß wie es ist, wenn man mitten in einer wichtigen Arbeit gestört wird. Mir geht es da überhaupt nicht anders. Und deswegen will ich Sie auch nicht lange aufhalten. Haben Sie Lust, mit mir am Sonntag in die Oper zu gehen?«
»Die Karten sind doch seit Monaten ausverkauft«, bemerkte Leonie.
Er lachte.
»Ja, ich weiß. Aber ich baue gerade für den Intendanten ein Haus …«
Leonie freute sich, sie hatte sich um Karten für diese Inszenierung bemüht, war aber leer ausgegangen.
»Wenn das so ist …, natürlich nehme ich die Einladung von Herzen gern an, Lars. Danke, dass Sie an mich gedacht haben.«
Sie wusste nicht, dass er ihr jetzt am liebsten gesagt hätte, dass er ständig an sie denken musste, mehr als gut für ihn war.
Sie wusste nicht, dass er ihr gern sagen würde, wie beeindruckt er von ihr war, wie verliebt.
»Dann freue ich mich auf den Sonntag«, sagte er stattdessen nur. »Wir telefonieren noch miteinander über das Wo und Wie …, jetzt wünsche ich Ihnen erst mal ungestörtes Weiterarbeiten.«
Sie bedankte sich, verabschiedete sich. Eine schöne Idee, sie einzuladen.
Leonie freute sich auf den Abend, auf diese grandiose Operninszenierung, über die überall gesprochen wurde.
Wenn sie ehrlich war, freute sie sich auch auf das Treffen mit Lars Bergmann.
Sie hatten sich im »Chez Marie« vortrefflich miteinander unterhalten. Er war ein sehr kluger Mann, sie hatte erstaunlich viele gemeinsame Interessen. Seine Art von Humor gefiel ihr. Er gefiel ihr eigentlich insgesamt sehr gut. Und welche Frau war gegen offensichtliche Bewunderung immun? Sie kannte keine. Sie flirteten miteinander.
Aber mehr?
Das konnte Leonie sich derzeit nicht vorstellen, musste sie auch nicht. Wenn er es sein sollte, dann würde es sich zeigen.
Sie war nicht auf der Suche, und deswegen konnte sie alles sehr entspannt genießen.
Und nun diese Einladung.
Er ließ sich wirklich etwas einfallen, der gute Lars Bergmann, keine Frage.
Aber genug damit.
Jetzt hatte sie erst mal etwas anderes zu tun. Etwas, was ihr, ehrlich gestanden, mehr Herzklopfen verursachte als der Flirt mit Lars.
*
Die Gartenstraße lag am Stadtrand, nicht auf der Seite mit den herrschaftlichen Villen, den großen Gärten.
Die Gartenstraße war überwiegend mit Häusern aus den Fünfzigerjahren bestanden, die ihre beste Zeit längst schon hinter sich hatten.
Die Häuser waren nicht verkommen, aber der Verfall war erkennbar.
Es hätte längst etwas an ihnen gemacht werden müssen.
Unscheinbar …
Unauffällig …
Trist …
Grau …
Das war der erste Eindruck, den man hatte.
Leonie war noch nie zuvor hier gewesen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es diese Straße gab.
Hauptkommissar Paul Schuster wartete bereits auf sie.
Er war allein. Und das freute sie. Sie wusste selbst nicht warum, aber das erste Mal wollte sie Carlottas Wohnung ohne viele Zeugen betreten. Und schon gar nicht wollte sie diesen forschen Mike Bär dabeihaben. Der mochte im wahren Leben vielleicht sogar nett sein. Am Telefon hatte er ihr nicht gefallen.
»Schön, dass Sie pünktlich sind, Frau von Tenhagen«, freute er sich.
Und sie dachte, dass das wohl das Geringste war, was er erwarten konnte.
»Ich habe mir gedacht, dass wir zwei, wie versprochen, erst mal allein in die Wohnung gehen …, das ganze Geschwader folgt später nach. Das Sammeln der Fakten für den Todesfallermittlungsbericht kann für Sie nur langweilig sein.«
Sie wollte ihm jetzt nicht sagen, dass bereits das Wort Todesfallermittlungsbericht bei ihr ein Gruseln verursachte.
Er nickte ihr zu, holte einen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf.
Sie fragte ihn nicht, woher er den Schlüssel hatte.
Sie war schlichtweg nur aufgeregt, als sie hinter ihm ins Haus stolperte und kam sich ein wenig so vor wie als kleines Mädchen an Weihnachten. Einen Unterschied gab es allerdings. Es war keine freudige Erregtheit in Erwartung vieler Geschenke, sondern eine, für die sie keine Worte fand, die sie berührte. Denn eines war gewiss, sie drangen gleich in das Leben eines Menschen ein, der ihnen nicht mehr sagen konnte, ob er das eigentlich wollte oder nicht.
Sie spürte, wie ihr Pulsschlag sich beschleunigte.
Leonie war froh, dass der Kommissar nicht sprach. Ihre Stimme würde unweigerlich zittern, wenn sie ihm eine Antwort geben müsste.
Carlotta Perucci …
Frau, wie auch immer, Förster …
Gleich würden sie es wissen.
Sie dachte sich für ihre Kriminalromane die spannendsten Szenen aus.
Die Realität war anders.
Was man da empfand, konnte man nicht beschreiben. Zumindest war sie bislang nicht dazu in der Lage gewesen, bei aller Fantasie nicht.
Der Flur war dunkel, der Fußboden abgewetzt, die Stufen der Treppe ausgetreten.
Es roch nach abgestandenem Essen, ungelüftet.
Langsam stieg sie hinter dem Kommissar die Stufen hoch.
Diesen Weg war die Tote immer gegangen, rauf, runter.
Zum letzten Mal nur noch runter.
Es war ein Weg ohne Wiederkehr gewesen.
Was mochte sie dabei gefühlt haben?
War sie langsam gegangen, zögerlich?
Schnell?
Welche Gedanken waren ihr durch den Kopf gegangen?
Niemand wusste es.
Niemand würde es je erfahren.
Leonie wusste allerdings von sich, dass die Gedanken, die ihr augenblicklich durch den Kopf gingen, nicht gut waren, überhaupt nicht gut.
Mutmaßungen …
Phantasien …
Sie riss sich zusammen, fragte den Kommissar etwas ganz Banales, was überhaupt nichts mit dem »Fall« zu tun hatte.
Er konnte ihr gerade noch eine Antwort geben, dann hatten sie die Wohnungstür erreicht.
»Förster« stand auf einem Pappschild, das mit Reißzwecken an der Tür befestigt war.
Auch wenn das Haus einen etwas ärmlichen Eindruck machte,