Mutmaßungen …
Wie sie aus Erfahrung wusste, führten die zu nichts.
Dann eben nicht, dachte sie nur, ehe sie in ihr Schlafzimmer ging, um mal nachzusehen, was sie am Abend anziehen sollte.
Wenn sie mit ihrer Freundin Linda unterwegs war, musste sie sich zwar nicht aufhübschen. Aber nett anzogen sie sich beide doch immer.
Was sie gerade trug – Jeans und ein einfaches Shirt, das war wirklich ein wenig zu schlicht.
Leonie entschied sich für ein schlichtes taupefarbenes Kleid. Der Schnitt war perfekt, und diese Schlammfarbe stand ihr gut. Sie wirkte sehr edel, was allerdings auch ein wenig an dem traumhaftem Stoff lag.
Als das erledigt war, setzte sie sich in ihrem Wohnzimmer in einen Sessel und dachte noch einmal über das mit Sergio geführte Telefonat nach.
Er war wirklich ein Schatz. Wie prompt er die Perucci-Geschichte für sie herausgefunden hatte. Das wusste sie sehr zu schätzen, denn er hatte genug zu tun.
Sie wusste schon, dass er bei anderen Leuten nicht so flink gewesen wäre. Er wusste zwar, dass aus ihnen niemals etwas mehr würde als das, was bestand. Aber er war ein Charmeur, dazu noch ein Italiener. Er würde es immer wieder versuchen. Da seine Anmache nicht unangenehm war und er niemals die zwischen ihnen bestehende unsichtbare Grenze überschreiten würde, konnte sie damit leben.
Außerdem … Wenn sie ganz ehrlich war, gefielen ihr seine Komplimente. Schließlich war sie eine Frau, und die waren für Schmeicheleien immer empfänglich, besonders wenn sie von einem so attraktiven Mann kamen.
Leonie war sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt noch einmal auf eine Liebesbeziehung einlassen sollte.
Mit Robert, das war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Eine solche Liebe erlebte man nur einmal im Leben, einen solchen Perfektionismus, ein solches Glück.
Warum sich auf eine laue Beziehung einlassen, wenn man wusste, dass es etwas Vollkommenes wirklich gab?
Mit Kevin hatte sie eine nette Zeit gehabt, jetzt, im Nachhinein betrachtet. Als sie dahinter gekommen war, von ihm ständig betrogen worden zu sein, weil er nicht anders konnte, weil er ein Schürzenjäger war. Das hatte ganz schön wehgetan.
Natürlich war sie froh darüber, ganz konsequent diese Geschichte beendet zu haben. Eine Zukunft hätte sie nie gehabt.
Alles hatte seine Zeit.
Da war etwas Wahres dran.
Sie stand auf.
Jetzt bloß nicht nostalgisch werden.
Sie wollte mal nachsehen, ob Tante Klara wieder daheim war.
Da konnte sie ihr gleich sagen, dass sie den Abend auswärts verbringen würde.
Die Gräfin Rosenstein, ihr Röschen, hatte damit kein Problem.
Im Gegenteil, sie freute sich, wenn Leonie unter Leute ging.
Und das ganz besonders, wenn sie in Begleitung von Linda unterwegs war.
Obwohl sie keine »von« war, hatte Linda bei Klara gute Karten.
Die Schneiders waren eine alteingesessene, traditionsbewusste Familie.
*
Das »Chez Marie« war ein kleines, aber feines französisches Restaurant, eher ein Insider-Tipp, bei dem alles stimmte – das Ambiente, besonders aber das köstliche Essen.
Einen gravierenden Mangel gab es.
Es lag mitten in einem Wohngebiet, und deswegen war es geradezu ausgeschlossen, abends in der Nähe einen Parkplatz zu finden.
Das nächste Mal würde sie ein Taxi nehmen, dachte Leonie entnervt, als sie zum gefühlten hundertsten Male den Häuserblock umrundete.
Wie durch ein Wunder fuhr direkt vor dem Restaurant ein Auto weg.
Leonie konnte nicht anders, sie schenkte dem Fahrer ein hinreißendes Lächeln. Sie hätte noch etwas ganz anderes getan für dieses Geschenk.
Sie war noch sehr gut in der Zeit, weil sie rechtzeitig genug losgefahren war, dennoch saßen Linda und Andreas bereits an dem reservierten Tisch …, nicht nur die beiden.
Da saß noch jemand, mit dem Rücken zur Tür, unschwer als Mann zu erkennen.
Linda hatte von einem Abendessen mit Andreas gesprochen. Wer war der Mann?
Weil Linda derzeit auf Wolke Sieben schwebte, hatte sie doch wohl nicht jemanden aufgetan, um sie auch auf eine solche zu befördern?
Sie hatte sich auf das Abendessen, den Abend insgesamt, gefreut. Jetzt war ihr die Lust vergangen.
Linda hatte sie entdeckt, winkte ihr fröhlich zu.
Leonie blieb nichts weiter übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Sie begrüßten einander.
Der Mann stellte sich als Lars Bergmann heraus. Er betrieb zusammen mit Andreas ein Architekturbüro. Befreundet waren sie auch.
»Weißt du, Leonie«, erklärte Linda unbefangen, als sie alle wieder saßen, »Lars hatte für heute Abend auch nichts vor, und da haben wir ihn spontan eingeladen. Es ist dir doch recht?«
Sollte sie da jetzt nein sagen? Natürlich nicht!
Linda atmete sichtlich erleichtert auf.
Leonie hatte die Kröte geschluckt, ohne Theater zu machen oder ohne einfach wieder zu gehen.
Natürlich war das mit Lars kein Zufall, den hatte sie gezielt für ihre Freundin eingeladen, weil sie der Meinung war, dass Lars und Leonie gut zueinanderpassen könnten.
»Dann sollten wir jetzt ein Gläschen Champagner trinken«, sagte sie fröhlich. »So jung kommen wir nicht mehr zusammen.« Erst jetzt wurde Leonie bewusst, dass es keine gute Idee gewesen war, mit dem Auto herzukommen.
Wenn es schon mit Champagner anfing, würde sie sich nach diesem ersten Glas nicht ausklinken können.
Nun gut.
Dann würde sie sich eben ein Taxi nehmen und ihren Wagen morgen abholen.
Sie warf einen vorsichtigen Blick Richtung Lars Bergmann.
Er sah sehr gut aus, war blond, hatte blaue Augen. Er war groß und schlank.
Genau der Typ, der in Lindas Beuteschema passte.
Hatte sie sich den als Reserve, als Ersatzmann mitgebracht, falls es mit Andreas doch nicht klappen sollte?
Diese Meinung musste sie schnell wieder revidieren.
Linda und Andreas klebten praktisch aneinander, verschlangen sich mit Blicken.
Lars Bergmann und Leonie waren sich streckenweise selbst überlassen, stellten aber sehr schnell fest, dass das nicht verkehrt war. Es gab einige Themen, über die sie sich unterhalten konnten. Und irgendwann klinkten auch Linda und Andreas sich ein.
Es wurde ein langer, schöner Abend. Sie speisten köstlich, führten interessante Gespräche, und sie lachten viel miteinander.
Leonie konnte nicht sagen, dass sie Schmetterlinge im Bauch hatte, aber Lars Bergmann gefiel ihr.
Als Linda sie irgendwann mal zur Toilette schleppte und sie fragte: »Und, wie findest du Lars?«
Da antwortete sie: »Nett …, er ist sehr nett. Eigentlich doch genau dein Typ, oder?«
Linda zuckte die Achseln.
»Früher wäre ich voll auf ihn abgefahren. Ich meine, vor Andreas. Mit ihm wird es von Tag zu Tag schöner. Er ist genial für mich. Auch wenn ich herumzicke, trägt er das mit einer unglaublichen Gelassenheit …, ich kann mir sehr gut vorstellen, ihn schon bald zu meinen Eltern zu schleppen. Ich denke, die werden auch Spaß an ihm haben.«
Die Schneiders hatten sich