Es kamen einige technische Ausführungen und dann fuhr der Notar Münch fort:
»Witschi begann zu jammern, er schimpfte auf seine Frau und auf seinen Sohn, die ihm das Leben zur Hölle machten, wie er sich ausdrückte. Ich versuchte ihn zu beruhigen. Aber er regte sich immer mehr auf, plötzlich zog er einen Revolver aus der Tasche und drohte mir, er werde sich in meinem Büro erschießen, wenn ich ihm nicht zu Hilfe käme. Der Mann begann mir auf die Nerven zu fallen, ich wollte ihn los sein, er klagte und jammerte weiter: der Gemeindepräsident wolle ihn internieren lassen… Ich schnitt ihm das Wort ab: Das gehe mich gar nichts an, er solle machen, dass er aus meinem Büro komme, ich könne solchen Lärm nicht brauchen. Da begann er wieder zu weinen, nein, er wolle nicht gehen, bis er nicht einen Rat erhalten habe. Ich konnte ihm aber keinen Rat geben und sagte ihm dies. Jetzt werde er sich also erschießen, sagte Witschi. Ich darauf: Aber nicht in meinem Büro. Da habe er nicht die rechte Ruhe dazu, aber ich hätte eine leerstehende Kammer, wenn er sich dorthin bemühen wolle, so werde er dort die beste Gelegenheit haben, sich aus er Welt zu schaffen. Du wirst natürlich denken, lieber Wachtmeister, dass ich ein herzloser Mensch bin. Aber das bin ich gar nicht. Nur musst du bedenken, dass ich in meiner Praxis schon viele derartige Fälle gehabt habe; Selbstmorddrohungen sind bequeme Erpressungsversuche. Die Leute wollen sich gar nicht umbringen, sie wollen nur Eindruck machen und versuchen, etwas herauszuschinden. Ich sage dir das vertraulich und du wirst mich verstehen.«
Studer schüttelte den Kopf. War es bei Witschi nicht doch vielleicht eine echte Verzweiflung gewesen? Er sah den Wendelin vor sich, wie er auf dem Schragen lag im hellen, allzu weißen Raum des Gerichtsmedizinischen… Der ruhige, schier erlöste Ausdruck auf seinem Gesicht… Münch schrieb weiter, und was er schrieb, schien eigentlich dem Notar recht zu geben:
»Ich führte den Wendelin in eine abgelegene Kammer und sagte zu ihm: ›Bitte!‹ Dann schloss ich die Türe. Ich war noch nicht fünf Schritte weit gegangen, als ich einen Schuss hörte. Nun wurde mir doch ungemütlich zumute. Ich kehrte zurück, öffnete die Türe: Witschi stand in der Mitte des Zimmers. Ein alter Spiegel, der an der Wand hing, hatte daran glauben müssen… Aber Witschi hatte sich geschont. Merkwürdig scheint mir nur, dass er dann zwei Tage später im Walde erschossen aufgefunden worden ist. Ich kann da keine Meinung äußern…«
Die Tür ging auf. Zwei Frauen traten ein. Frau Murmann, groß, mütterlich, schützend, führte Sonja ins Zimmer.
Studer sah die beiden Frauen an. Er nickte.
»Danke, Frau Murmann«, sagte er. »Ist’s ohne Aufsehen gegangen?«
»Wohl, wohl«, antwortete die Frau. »Ich hab’ sie vor dem Bahnhof erwartet, und sie ist ganz willig mitgekommen.«
»Wir fahren zusammen nach Thun, Meitschi, wir gehen den Schlumpf besuchen. Ist’s dir so recht? Ich hab’ nur nicht wollen, dass die Mutter etwas davon erfährt, drum hab’ ich die Frau vom Landjäger geschickt, damit sie dir’s sagt. Verstehst? Es ist weiter nicht gefährlich…«
»Jawohl, Herr Wachtmeister.« Sonja nickte eifrig.
»Aber die Leute hier brauchen uns nicht zu sehen«, fuhr Studer fort. »Murmann leiht mir sein Motorrad, er wird vorausfahren und auf uns warten. Du kannst auf dem Soziussitz hocken, um neun Uhr sind wir in Thun. Vorher hat’s keinen Zweck. Geh’ jetzt mit der Frau Murmann. Ich muss noch arbeiten. Ich sag’ dir dann, wann wir gehen. Du gehst voraus, und wir treffen uns. Verstehst?«
Sonja nickte schweigend.
»Komm, Meitschi«, sagte Frau Murmann.
Aber Sonja zögerte noch. Endlich stotterte sie (und Studer merkte, dass ihr das Schluchzen zuoberst in der Kehle saß):
Ob der Wachtmeister nicht wisse, wo der Armin hin sei?
»So? Ist er nicht daheim?«
– Nein, er sei verschwunden, seit… ja seit er damals vom Tisch aufgestanden sei; aber die Mutter habe gar keine Sorge gezeigt, sie sei heut’ morgen wieder zum Kiosk… Was der Wachtmeister meine?
Der Wachtmeister schien gar nichts zu meinen, denn er schwieg. Er hatte etwas Derartiges erwartet. Die ganze Nacht hatte er in Witschis Garten verbracht, versteckt hinter einem großen Haselbusch und hatte den Schuppen nicht aus den Augen gelassen. Bevor er die Wache angetreten hatte, war er noch in den Schuppen gegangen. Die Tür mit den Spuren von Witschis Schießversuchen (eigentlich, hatte er gedacht, ist es noch gar nicht bewiesen, dass Witschi sich geübt hat) stand noch an der gleichen Stelle, und während der ganzen Nacht hatte niemand versucht, sie zu holen. Witschis Haus blieb still und dunkel, die alte Frau Anastasia war um zehn Uhr heimgekommen. Eine Stunde lang hatte Licht in der Küche gebrannt. Dann war das Haus dunkel geblieben bis zum Morgen. Studer war sicher, dass Frau Witschi wusste, wohin ihr Sohn gegangen war. Er tauchte sicher auf, wenn die Luft wieder rein war.
Aber was hatte ihn vertrieben, den Armin Witschi, den Maquereau? Etwa Schreiers, des Handharfenspielers, laut gesprochene Worte: »So, so, hat das Schlumpfli gestanden?«
War etwa das Geständnis Schlumpfs nicht im Programm vorgesehen gewesen?
Wie leicht hätte Studer den Aufenthaltsort des Armin erfahren können! Aber er wollte ihn vorläufig gar nicht wissen. Heut’ am Morgen, beim Frühstück, hatte die Bertha, die Saaltochter, verweinte Augen gehabt. Sie hatte hin und wieder trocken aufgeschnupft und Studer hatte sich treuherzig erkundigt, was denn los sei?
– Gar nüd sei los, hatte die Bertha gemeint.
Da hatte Studer sich nicht beherrschen können und im gleichen treuherzigen Ton weitergefragt:
– Wie viel Geld sie denn dem Armin habe geben müssen?
– Fünfhundert Franken, ihr ganzes Erspartes! Aber der Wachtmeister müsse das für sich behalten, ja nicht weiter sagen! Sobald die Versicherungen ausbezahlt seien, werde der Armin sie heiraten, das habe er ihr versprochen, ja, geschworen habe er es ihr. Sie wisse nicht, warum sie das jetzt dem Wachtmeister erzählt habe, sie hätte nichts sagen sollen, der Armin habe ihr das Versprechen abgenommen… und weiter in dem Ton. Studer hatte dem Mädchen beruhigend die Hand getätschelt. Diese Saaltochter! Sie war nicht mehr jung, immer musste sie freundlich sein mit den Gästen, musste klobige Witze anhören, sich handgreifliche Zärtlichkeiten