»Schon gut«, wiederholte Studer nach einer Pause – und er konnte den Blick nicht von Sonja wenden. Verzweiflung, Angst, Ratlosigkeit brachten Unruhe in das Kleinmädchengesicht.
Wenn sie nur Vertrauen zu mir hätte, grübelte Studer. Er dachte, während er den nächsten Worten Schwomms zerstreut lauschte, immerfort an seine Frau. Wenn die hier wäre… Seit er ihr das Romanlesen abgewöhnt hatte, gelang es dem Hedy (Frau Studer hieß Hedwig) gut, geplagte, schweigsame Menschen zum Reden zu bringen – besonders Frauen.
Der Lehrer Schwomm aber sagte:
»Natürlich will ich nicht behaupten, dass ich Erwin Schlumpf auf der Flucht nach seiner ruchlosen Tat ertappt habe…« (Verunfallt – ruchlose Tat, ging es Studer durch den Kopf…) »Aber immerhin schien es mir merkwürdig, dass der Schatten die Richtung nach den Baumschulen des Herrn Ellenberger nahm…«
»Die Baumschulen als Schattenreich, hehehe…« meckerte der alte Ellenberger. Studer sah ihn strafend an.
»Und Sie sind ganz sicher, zwei Schüsse gehört zu haben, und nach den zwei Schüssen haben Sie den Schatten in der Richtung der Baumschulen verschwinden sehen?«
»Ich glaube«, Schwomm stotterte, »Ich glaube, ich habe zwei Schüsse gehört.« Wie hilfesuchend blickte sich der Lehrer um. Aber er vermied es, Studer in die Augen zu sehen.
»Glauben! glauben!« sagte Studer vorwurfsvoll. »Ein Mann wie Sie darf nicht glauben, er muss sicher sein. Also zwei Schüsse? Ja?«
»Jaha«, es klang wie ein Seufzer.
Schweigen. Dann begann die Musik wieder zu spielen. Ausgerechnet: ›Wenn du einmal dein Herz verschenkst…‹ Studer sah den Coiffeurlehrling Sonja zum Tanz auffordern. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie packte ihre kleine Handtasche unter den Arm, rannte durch den Garten. War es eine Flucht? War es nicht vielmehr ein letzter Versuch, jemanden einzuholen?
»Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, mir von zwei Schüssen zu erzählen, während ich durch fünf Zeugenaussagen erhärten kann, dass nur ein Schuss gefallen ist?« (Das mit den fünf Zeugenaussagen war aufgelegter Schwindel, in Murmanns Protokollen stand nichts dergleichen, aber was tat man nicht alles, um die Wahrheit zu finden?)
»Fünf Zeugenaussagen?« Schwomm war bleich. »Erhärten?«
»Ja, erhärten!« sagte Studer grob. »Übrigens interessiert mich das gar nicht. Sie haben ein schlechtes Gewissen, Herr Lehrer Schwomm. Sie haben versucht, das schlechte Gewissen los zu werden, indem Sie mir nur die Hälfte, was sage ich, die Hälfte!… nur ein Viertel der Wahrheit erzählt haben. Ich will jetzt nichts mehr hören«, Studer winkte ab, denn Schwomm öffnete den Mund, um sich zu rechtfertigen. »Ich glaube Ihnen nichts mehr. Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen…«
Wenn Studer hochdeutsch sprach, und das kam selten genug vor, war die Wirkung immer die gleiche – ob es sich nun um die Wirkung auf Zivilpersonen handelte oder um die auf junge Fahnder. Alle spürten dann, es war am besten, man ließ den Wachtmeister in Ruhe.
»Heiß, heiß!« krächzte der alte Ellenberger. »Vous brûlez commissaire!« Wie es in jenem Spiel üblich ist, in dem ein versteckter Gegenstand gesucht werden muss und die Wissenden den Suchenden leiten mit Worten wie: ›kalt, wärmer, sehr warm, heiß‹, je nachdem der Suchende sich dem versteckten Gegenstand nähert oder sich von ihm entfernt.
»Ihr werdet auch nicht immer spielen können, Ellenberger«, sagte Studer. Sein Gesicht war sehr bleich, er hatte die Hände geballt. Dann zuckte er mit den Achseln und schritt zwischen den lauten Tischen hindurch, auf die Türe zu, in der Armin Witschi verschwunden war.
Im Schieberrhythmus spielte ›The Convict Band‹:
›Muss i denn, muss i denn zum Städtle hinaus…‹
Liebe vor Gericht
Montagmorgen halb acht Uhr im Büro des Landjägerkorporals Murmann.
Studer saß am Fenster und blickte in den Garten, über den ein feiner Regen niederging. Es war kühl. Der heiße Sonntag war eine Täuschung gewesen.
Der Wachtmeister war allein. Er sah müde aus. Zusammengesunken hockte er auf dem bequemen Armstuhl in seiner Lieblingsstellung: Unterarme auf den Schenkeln, Hände gefaltet. Die Haut eines Gesichtes ließ an verregnetes Papier denken. Er seufzte von Zeit zu Zeit.
In der Hand hielt er einen Brief, drei engbeschriebene Bogen. Er las darin, ließ die Blätter wieder sinken, nahm sie wieder auf, schüttelte den Kopf. Es war ein Brief seines Partners im Billardspiel. Münch, der Notar, schrieb merkwürdige Dinge, Dinge, die vielleicht… vielleicht die Lösung geben konnten – die Lösung des verkachelten Falles Witschi. ›Streng vertraulich‹ stand auf dem Briefkopf. Wie stellte sich der Münch eigentlich die Sache vor? Erzählte interessante Tatsachen, und man durfte sie nicht verwerten.
Der Brief handelte von Akzepten. Von Akzepten, die zusammen eine beträchtliche Summe ausmachten. Wechsel also, die von einem Gerzensteiner Bürger akzeptiert worden waren und nun der Einlösung harrten. Der Gerzensteiner, um den es sich handelte, hatte mit der Kantonalbank vor einer Woche ein Abkommen getroffen. Die Wechsel waren heute fällig gewesen, die Bank hatte sie vor einer Woche mit Ach und Krach auf acht Tage verlängert (prolongiert schrieb der Notar). Also heute in acht Tagen mussten sie bezahlt werden. Zehntausend Franken. Ein ordentlicher ›Schübel‹ Geld. Münch nannte den Namen des Akzeptanten nicht, er war nicht schwer zu erraten… Und einkassiert hatte der Witschi das Geld. Vor sechs Monaten…
Dieser Witschi musste es faustdick hinter den Ohren gehabt haben, er musste ordentlich Geld verputzt haben. Wohin war das Geld gekommen? Spekulationen? Vielleicht. Münch schrieb, Witschi sei knapp vor dem Konkurs gestanden (und merkwürdigerweise stand auch der Gerzensteiner Bürger knapp vor dem Konkurs… ) Der Notar erzählte eine merkwürdige Geschichte. Er schrieb:
»Außerdem muss ich Dir, lieber Wachtmeister, noch eine sonderbare Geschichte erzählen. Du erinnerst Dich doch noch, dass ich Dir damals, beim Billardspielen, als wir den alten Ellenberger sahen, erzählte, Ellenberger sei bei mir gewesen, um eine zweite Hypothek, die er auf dem Hause des Wendelin Witschi habe, zu kündigen. Nun stimmt das nicht ganz. Ellenberger war schon einmal bei mir gewesen, eine