Studer nickte, nickte ununterbrochen zu den Worten der Frau. Es war ja alles gelogen, warum also zuhören?…
Er sah den Schuppen vor sich, ganz deutlich.
Die Frau hat eine Stallaterne in der Hand. Und Witschi probiert den Revolver aus. Er schießt auf das weißgehobelte Rechteck der Tür, immer aus einer Entfernung von zehn Zentimeter. Nicht mehr, nicht weniger. Er probiert es mit einem Zigarettenblättchen, dann mit dreien, dann mit fünfen. Bei welcher Zahl gibt es keine Deflagrationsspuren mehr?
Fünfzehn Patronen, dachte Studer… Wo war wohl die Schachtel? Man sollte sie finden. Und immer das Bild, das sich dazwischenschob:
Der Witschi, der beim Schein der Stallaterne Schießübungen veranstaltet… Die Frau hält sicher einen Sack, um den Schall abzudämpfen.
War es sonst möglich, dass keiner der Nachbarn etwas gehört hatte?… Vielleicht hatten sie etwas gehört, das nächste Haus stand in etwa fünfzig Meter Entfernung… Sollte man dort fragen gehen?
Und wie aus einem Traum heraus, mitten in den Redestrom der Frau Witschi, sagte Studer mit leiser Stimme:
»Wie Ihr Mann auf die Tür im Schuppen geschossen hat, haben Sie da einen Sack gehabt, um den Schall abzudämpfen?«
Das Glas zerschellte auf dem Boden. Frau Witschi hatte die Augen weit aufgerissen, das Häutchen, das über dem einen lag, war weiß.
»Wie?… Was?…« stotterte Frau Witschi.
»Nichts, nichts«, Studer winkte müde ab. »Es hat ja alles keinen Wert, der Schlumpf hat ja gestanden.« Aber unter den halbgesenkten Lidern beobachtete Studer neugierig die Frau.
Ein Aufatmen. Frau Witschi stand auf, ging in die Küche, kam mit einer Küderschaufel zurück und wischte die Scherben zusammen.
»Scherben bringen Glück«, sagte Studer leise.
Ein giftiger Blick der Frau. Dann:
»So! Hat der Mörder endlich gestanden! Ein Glück! Dann habt Ihr ja hier nichts mehr zu tun, Wachtmeister!« (›Ihr‹ statt ›Sie‹! Studer lächelte.)
»Sie haben ganz recht, Frau Witschi, ich hab’ nichts mehr zu tun…«
Wie spät war es? Draußen war noch heller Tag. Der Schuppen stand am Ende des Gartens, man sah ihn gut durchs Fenster. Studer blickte lange hin. Er dachte: Diese Nacht sollte ich hier in der Nähe Posten stehen, die Mutter und der Sohn werden versuchen, die Tür zu verbrennen. Hätt’ ich nichts sagen sollen? Doch, es war ganz gut. So ein Schreckschuss ist manchmal ganz gut. Obwohl der ganze Fall hoffnungslos ist. Düster, düster… Er hat recht, der Kommissär Madelin! Ein Mordfall auf dem Land!… Wollen wir den Witschi in Frieden lassen? Er hat sich geopfert für die Familie… Er hat sich erschossen, damit die Versicherung zahlt… Hat er wirklich geschossen?… Mit dem rechtwinklig abstehenden Arm?… Vielleicht steckt doch mehr hinter dem Fall… Aber wer hat dann geschossen?… Der Schlumpf?… Doch der Schlumpf?… Kann man einen Mord aus Liebe begehen?… Warum nicht? Gleichwohl, es ist unwahrscheinlich… Der Armin?… Der Maquereau?… Nein, nein, zu feig… Die Mutter?… Chabis!… Wer dann? Wenn man nur wüsste, wer den Revolver gekauft hat, vielleicht gäbe das einen Anhaltspunkt…
»Wo schafft Ihre Tochter in Bern?« fragte Studer laut.
»Beim Loeb«, die Stimme der alten Frau zitterte. Man sollte sie in Ruhe lassen, die Frau Anastasia, dachte Studer. Er streckte die Hand aus, um sich zu verabschieden. Aber Frau Witschi sah die Hand nicht. Sie ging mit winzigen Schritten zur Tür, öffnete sie. Auf ihrem Gesicht stand ein gefrorenes Lächeln.
»Auf Wiedersehen, Herr Wachtmeister«, sagte sie.
Studer neigte stumm den Kopf…
Schwomm
Auf der Straße schon hörte Studer die Musik. Besonders laut tönte die Handharfe. Schreier schien wieder seinen Platz eingenommen zu haben…
Und wer saß am Tisch, eifrig auf Armin Witschi einredend, mit hohem Stehkragen und schwarzen, hohen Schnürschuhen zu grauen Flanellhosen?
Der Lehrer Schwomm.
Er sprang auf, als Studer an ihm vorbeiging. Sein Gesicht war ratlos und kindlich. Ober der Oberlippe saß ein blondes Schnurrbärtchen.
»Herr Wachtmeister«, sagte der Lehrer Schwomm atemlos, »ich habe gehört, dass Sie sich mit dem Fall Witschi beschäftigten. Ich habe lange gezögert, Ihnen anzuvertrauen, was ich von der Sache weiß. Aber nun drängt es mich, der Gerechtigkeit meines Vaterlandes Genüge zu tun, und…«
»Red’ nicht so viel, Schwomm«, sagte Armin grob. Studer blickte den Burschen streng an. Der nickte mit dem Kopf, als wolle er sagen: »Du kannst mich lang anstarren, mir machst du keine Angst…«
»Wollen Sie nicht an meinen Tisch kommen, Herr Lehrer Schwomm?« fragte Studer höflich und wies mit der Hand gegen den Tisch, an dem noch immer der alte Ellenberger saß und gedankenvoll sein Weinglas zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte…
Schwomm nahm Platz. Das heißt, er setzte sich auf die äußerste Kante des eisernen Gartenstuhls, zog dann sein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn. Seine Gesichtshaut war fast so gelb wie seine gelockten Haare.
»Ich habe nämlich am Abend, an dem der arme Witschi durch Mörderhand umgekommen ist«, sagte der Lehrer Schwomm und knetete an seinen Händen, »zufällig zwei Schüsse gehört…«
»So?« sagte Studer trocken.
»A bah!« meinte der alte Ellenberger und zog die Mundwinkel in die Wangen.
»Ja«, der Lehrer nickte. »Zwei Schüsse. Ich bin an jenem Abend zufällig im Wald spazieren gegangen… In Begleitung… Ich brauche doch nicht anzugeben, mit wem ich im Walde war?«
Ellenbergers dröhnendes Basslachen machte den Lehrer noch verlegener.
»Könnte ich nicht unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Herr Wachtmeister?« fragte er und wurde rot.
Studer schüttelte den Kopf. Ihn interessierte weniger, was der Lehrer ihm zu erzählen hatte, als das, was er offenbar verschweigen wollte. Und man konnte aus dem Verhalten des Mannes auf das schließen, was er zu verbergen hatte.
Der Lehrer Schwomm räusperte sich.
»Es war ungefähr zehn Uhr, als ich die Landstraße verließ und einen Seitenweg einschlug. Ich ging im Walde so für mich hin, wie es im Gedicht heißt, und ich dachte auch an nichts. Der Abend war still und weich, verschlafene Vögel