»Das hast du gut gemacht, Schreier, ich wär’ nie auf den Gedanken gekommen. Aber ob wir damit ein Geschworenengericht überzeugen können? Und dann der Browning? Der ist doch nicht neben der Leiche gelegen… Wer hat den aufgelesen? Fortgebracht?«
»Der Schlumpf natürlich«, sagte Schreier. »Aber wollen wir nicht weitergehen, Wachtmeister? Die Alte« – Schreier meinte Frau Witschi – »kann jeden Moment heimkommen. Von vier bis fünf schließt sie ihren Kiosk. Sogar am Sonntag, und es ist schon fünf Minuten über vier…«
»Versorg’ noch die Tür«, sagte er. Und Schreier nahm die Türe, lehnte sie an die Wand, schichtete Kisten, Schachteln davorauf…
»Wenn sie nur nicht verbrannt wird«, seufzte Studer. »Dann haben wir keinen Beweis mehr… Beweis?… Schöner Beweis!«
Sie verließen den Schuppen, gingen durch den Garten, blieben einen Augenblick in der Gartentür stehen und sahen zum Hause zurück. Als sie auf die Straße treten wollten, versperrte eine magere, schwarze Gestalt den Weg.
»Hat der Herr mich gesucht? Oder was hat er sonst zu suchen? Auf meinem Grundstück? Der Herr Wachtmeister!«
Nach jeder Frage stieg die Stimme ein wenig höher…
Anastasia Witschi, geb. Mischler
Studer hatte Frau Witschi nur flüchtig gesehen, damals, bei seiner Ankunft. Und dass er sie Anastasia getauft hatte, ganz unbewusst (merkwürdigerweise hatte der Name gestimmt), das hatte doch einen ganz verständlichen Grund gehabt.
Frau Witschi sah nämlich aus wie eine Karikatur der Zensur. Und die Franzosen hatten während des Krieges die Zensur Anastasie getauft…
Nachdem Frau Witschi ihre Fragen abgeschossen hatte, verschnaufte sie ein wenig. Ihre Blicke ruhten missbilligend auf Studers Begleiter. Was der da wolle, fragte sie, und diese letzte Frage war ganz besonders giftig; ihre Stimme überschlug sich. Schreier wurde rot.
Studer fühlte sich unbehaglich, aber er ließ sich nichts anmerken. Und dass seine Zehen in den Schuhen kleine Tänze aufführten, das sah niemand.
»Wir haben Sie gesucht, Frau Witschi«, sagte Studer und seine Stimme wurde ganz tief, wahrscheinlich als Ausgleich gegen die allzu hohe der Frau. »Wir haben uns den Garten angesehen. Ein schöner Garten, wirklich ein wunderbarer Garten. Es fehlt ein wenig an der Pflege, aber natürlich, das ist begreiflich…«
»Sind Sie noch nie hier oben gewesen?« fragte Frau Witschi. Studer sah sie an. War die Frage eine Falle? Nein… wahrscheinlich nicht… Also hatte Sonja nichts von seinem Besuch erzählt. Übrigens wartete Frau Witschi gar nicht auf eine Antwort.
– Wenn der Wachtmeister etwas zu fragen habe, so solle er nur eintreten… »Ich habe nichts zu verbergen«, sagte sie. »Nein, gewiss nicht. Unser Gewissen ist rein, was nicht alle Leute behaupten können.«
Jetzt wurde Schreier blass. Er zitterte. Merkwürdig, wie empfindlich diese anscheinend abgebrühten Burschen im Grunde waren!…
»Ruhig, ruhig«, sagte Studer leise und legte die Hand auf die Schulter des Burschen. »Geh’ wieder zurück. Ich dank’ dir auch. Du hast mir viel geholfen. Leb’ wohl«
Schreier gab dem Wachtmeister schweigend die Hand. Die alte Frau grüßte er nicht.
»Sie sind viel zu gut mit diesen Leuten, Herr Wachtmeister.« (Frau Witschi betonte das Sie, Studer sollte merken, dass sie nicht zu den kommunen Leuten gehöre, die alle Welt ihren.) »Treten Sie ein, wir wollen nicht vor der Tür stehenbleiben.«
Die Küche war sauber. Kein schmutziges Geschirr stand mehr im Schüttstein. Der Strähl war verschwunden. Auch das Wohnzimmer war aufgeräumt.
Die Vase unter Wendelin Witschis Bild fehlte.
»Nehmen Sie Platz, Herr Studer. Ich hol’ etwas zum Trinken. Sie werden sicher Durst haben.«
Und Frau Witschi kam zurück mit einer Flasche Himbeersirup und zwei Gläsern. Studer musste wohl oder übel mittrinken. Es schüttelte ihn gelinde.
»Mein armer Mann«, sagte Frau Witschi und zog die Luft durch die Nase. Sie wischte sich die Augen mit ihrem Taschentuch. Aber die Augen waren trocken und blieben es.
»Ja, ja«, meinte Studer und hielt die Hand über sein Glas, das Frau Witschi wieder mit der klebrigen Flüssigkeit füllen wollte. »Es ist traurig, dass er so hat ums Leben kommen müssen. Aber es war vielleicht doch ein Glück…«
»Ein Glück? Wieso ein Glück? Was meinen Sie?«
»Eh, wegen der Versicherung…« sagte Studer und zündete umständlich eine Brissago an. Eine Sturzflut von Worten ergoss sich über ihn. Und Studer ließ sie brausen…
Es war merkwürdig, fast wie eine Vision.
– Das Zimmer ist dunkel, ganz plötzlich. Die Lampe, von einem grünen Schirm verhangen, gibt ein düsteres Licht. Leere Teller stehen auf dem Tisch. Am oberen Ende sitzt der verstorbene Wendelin Witschi. Rechts neben ihm seine Frau, links Sonja, ihm gegenüber der Sohn.
Witschi schweigt, Müdigkeitsfalten liegen um seinen Mund, auf seiner Stirn. Ununterbrochen schwatzt die Frau. Sie klagt. Er sei schuld, nur er allein. Er habe die Familie in Schulden gestürzt, nun sei es an ihm, das gestrandete Schiff wieder flott zu machen. Geld habe er aufgenommen, ohne jemanden zu fragen – und die Kreugeraktien, die habe doch er gekauft, oder? Witschi hebt die Hand, die weiße, dürre Hand, so, als wolle er Einspruch erheben. Aber die Frau lafert weiter. Nichts da, er habe zu schweigen, ganz zu schweigen. Und dann flüstert sie plötzlich: Die Versicherungen brächten Geld… Ein Unfall… Nichts Arges. Aber er müsse so ausgeführt werden, dass er wie ein Überfall aussehe… Es seien ja genug Vorbestrafte im Dorf, auf die man die Schuld schieben könne…
Der Sohn mischt sich ein. Die Schwester habe ja ein Geschleipf mit so einem, sie müsse die Sache übernehmen. Den Burschen zu einem Rendezvous bestellen, damit er kein Alibi