Aber der Lehrer ließ sich nicht mehr stören.
»Das Geräusch, wenn ich es so nennen darf, hörte plötzlich auf. Ich hörte Zweige knacken…«
»Können Sie etwa die Distanz schätzen, ich meine die Distanz, die Sie von der Straße trennte?« fragte Studer und ließ seine Brissago qualmen.
»Nicht genau«, antwortete Schwomm leise. Er schien entrückt zu ein. Seine Augen blickten verschwommen ins Weite – und das Weite war hier ein dichtbesetzter Wirtsgarten. »Vielleicht könnte ich die Stelle wiederfinden, an der ich gestanden bin…«
»Gut«, sagte Studer. »Weiter, Herr Lehrer Schwomm.«
»Diesen ersten Teil, nämlich das Herankommen des Motorrades und dessen plötzlichen Stillstand, habe ich natürlich im Augenblick nicht beachtet. Es ist mir erst später eingefallen, als im Dorfe von der Auffindung des Leichtmotorrades Marke ›Zehnder‹ gesprochen wurde, des Motorrades, das dem verunfallten Wendelin Witschi gehört haben soll…«
Verunfallten? dachte Studer. Warum sagt der Mann zuerst durch Mörderhand umgekommen und jetzt verunfallt? Sollte er? Und es fiel ihm ein, wie grob Armin Witschi den Lehrer angelassen hatte.
»Weiter«, sagte Studer.
Aber Schwomm bedurfte dieser Aufforderung nicht. Er sprach und begleitete seine Rede mit pathetisch sein sollenden Bewegungen.
»Da, plötzlich, in der Stille des Waldes, erdröhnten zwei Schüsse. Meine… mein Begleiter zuckte zusammen. Ich beruhigte ihn. Es werde wohl nichts Schlimmes sein. Aber da ich Angst hatte, oder vielmehr, da meine… Begleitung Angst hatte, wir könnten überfallen werden, verließen wir, einen großen Umweg machend, den Wald, gelangten weit vor dem Dorfe wieder auf die Landstraße und folgten ihr. Nach einiger Zeit sahen wir am Rande der Straße ein verlassenes Motorrad stehen. Es war an einen Baum gelehnt…«
Schwomm machte eine Pause.
»Gesehen haben Sie niemanden?« fragte Studer nebenbei.
»Gesehen? Nein. Nur gehört. Nach den beiden Schüssen das Geräusch vieler Schritte. Einen dunklen Schatten bemerkten wir auch, aber nicht gegen die Landstraße zu, sondern in der entgegengesetzten Richtung, dort, wo der Wald an die Baumschulen des Herrn Ellenberger grenzt.«
»Einen Schatten?« fragte Studer. »Können Sie den Schatten näher beschreiben?«
Statt einer Antwort fragte Schwomm sehr sanft:
»Der Fall ist doch eigentlich durch das Geständnis des Schlumpf erledigt? Oder?«
»Gewiss, gewiss.« Studer sah auf seine gefalteten Hände. Er lauschte dem Tonfall von des anderen Stimme. Warum wohl hatte der Lehrer mit einem Zeugenbericht begonnen, um plötzlich, noch vor dessen Ende, die Frage zu stellen, ob der Fall nicht erledigt sei? Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder der Lehrer wollte sich wichtig machen, um im Prozess eine Rolle zu spielen, und es war sehr wahrscheinlich, dass diese Möglichkeit stimmte, – oder Schwomm wusste etwas, wagte jedoch aus irgendeinem Grunde nicht die Wahrheit zu sagen und half sich aus der Klemme, indem er die Hälfte des Wahrgenommenen mitteilte, gewissermaßen als Beruhigungsmittel für sein belastetes Gewissen. Denn der Mann wusste etwas, das war sicher. Nicht umsonst ergeht sich ein immerhin gebildeter Mann – er war Sekundarlehrer – in einer ziemlich öden Phraseologie, wie ›verschlafene Vöglein zirpten in den Zweigen‹. Und dann war da das Wort, das dem Lehrer wahrscheinlich ganz unbewusst entschlüpft war: ›… verunfallten‹.
Schweigen am Tisch. Die Musik verstummte, das Stück war zu Ende und lauter ertönte das Stimmengesumm. Die drei am Nebentisch kehrten zurück. Sonja blickte unbeteiligt auf den Lehrer – sie schien also nicht die ›Begleitung‹ des Lehrers gewesen zu sein, wenn man überhaupt aus Blicken Schlüsse ziehen konnte. Armins Gesicht hingegen war leicht verzerrt. Er schien jemanden zu suchen. Manchmal streiften seine Blicke über den Lehrer Schwomm, schweiften ab, schienen wieder auf die Suche zu gehen, blieben an der Türe hangen, die aus der Wirtschaft in den Garten führte…
Dort stand die Kellnerin. Und Studer fühlte mehr, als dass er richtig gesehen hätte, wie sie ganz unmerklich winkte – eine leichte Bewegung des Kopfes, ein Mundwinkel, der zuckte… Armin lehnte sich zurück, gähnte, hielt die Hand vor den Mund. Ein kaum merkliches Nicken, – das Gähnen war wohl nur ein Versuch, die Beobachter von der Bewegung des Kopfes abzulenken…
Studer war nicht mehr müde. Es kam ihm vor, als stehe er wieder mitten in den Ereignissen. Er war nicht mehr ausgeschaltet. Vor allem: es schien etwas vorzugehen, Ereignisse waren zu erwarten, Studer fühlte es in allen Gliedern. Er blieb ruhig. Zuerst aus diesem badschwammblonden Menschen, diesem Lehrer, alles herausholen, was es herauszuholen gab, und dann…
Studer hatte schon sein Programm für morgen.
Aber wie viel konnte noch passieren zwischen heut und morgen!… Die ganze Nacht lag dazwischen. Er wusste, der Wachtmeister Studer, dass er die folgende Nacht nicht viel schlafen würde… Aber was tat das? Saubere Arbeit! kommandierte er sich. Und wenn die Sache noch so unordentlich und verworren aussieht! Ordnung muss sein. Sauberkeit! Sauberkeit vor allem!
»Und wie sah der Schatten aus?« Die Frage war ein Überfall. Der verträumte Lehrer schreckte auf.
»Er huschte« (›huschte!‹ sagte der Lehrer Schwomm), »er huschte in zehn Meter Entfernung an uns… eh… an mir vorbei. Größe? Mittelgroß… ja, mittelgroß…« Der Lehrer schwieg plötzlich.
»Mittelgroß?« fragte Studer freundlich. »Ich müsste Vergleichsmöglichkeiten haben. Ungefähr wie groß war er, der Schatten? Ich will Ihnen zwar verraten, Herr Lehrer Schwomm, dass der Schatten vielleicht gar keine Wichtigkeit hat, aber möglicherweise bestätigt er unsere Vermutungen. Wäre der Schatten so groß gewesen wie, sagen wir, der Angeklagte Schlumpf, so wäre dies sehr wichtig für die Richter, die ja nichts auf ein Geständnis geben, solange nicht jede Bewegung des Angeklagten vor und nach der Tat samt allen psychologischen Motiven ganz genau festgelegt ist. Ich spreche zu einem Akademiker, nicht wahr, einem einfachen Manne gegenüber würde ich mich weniger gelehrt ausdrücken; also wie groß war der Schatten?«
»Ich habe Erwin Schlumpf eigentlich wenig gesehen. Aber mir scheint, der Schatten war von seiner Größe…«
»Es wäre für uns von größter Bedeutung,