»Die anderen im Dorf haben das nie gewusst«, sagte Sonja und ihre Stimme war leise, »aber der Onkel Äschbacher war ein unglücklicher Mann. Ich hab’ es gewusst. Und ich hab’ ihn gern gehabt, obwohl er den Vater nicht hat leiden können. Auch der Vater…«
»Ja, ja, schon gut«, sagte der Untersuchungsrichter und man merkte es ihm an, dass er ungeduldig wurde. »Mich interessiert am meisten, was am Abend des Mordes passiert ist!«
Sonja blickte auf, sie sah den Untersuchungsrichter vorwurfsvoll an und dann sagte sie mit einer Stimme, die stark an die ihrer Mutter erinnerte:
»Ich muss von dem, was früher geschehen ist, doch auch erzählen, sonst kommt Ihr ja nicht nach!«
»Sowieso«, meinte Studer, »nur erzählen lassen. Wir haben ja Zeit. Schlumpfli, eine Zigarette?«
Der Bursche Schlumpf nickte. Sonja erzählte weiter.
»Vor einem halben Jahr etwa ist zwischen dem Vater und dem Onkel Äschbacher alles anders geworden. Es sah so aus, als ob der Onkel vor dem Vater Angst hätte. Das war…« Sonja stockte, »das war nach einem Abend…« Sonja wurde rot und schielte zu Schlumpf hinüber. Der stand aufrecht da, rauchte schweigend, sichtlich aufgeregt und nahm tiefe Lungenzüge…
»An einem Abend, da war ich allein mit dem Onkel Äschbacher. Er war traurig. Es war Anfang Dezember. Draußen war’s dunkel. Ich hab’ die Lampe anzünden wollen. Da sagt der Onkel Äschbacher: ›Lass die Lampe, Meitschi, mir tun die Augen weh.‹ Dann schweigt er und hält seine dicke Hand wie einen Schirm über die Augen.
Ich saß am Tisch. ›Es geht alles schief. Sie haben mich nicht in die Kommission gewählt…‹ In welche Kommission? hab’ ich gefragt. ›Ah, das verstehst du nicht‹, sagt er drauf. Und ich soll ein wenig zu ihm kommen. Er saß in einem tiefen Lehnstuhl, ganz in einer finsteren Ecke. Ich bin hingegangen, er hat mich auf seine Knie genommen und mich festgehalten. Ich hab’ gar keine Angst gehabt, denn er ist immer gut zu mir gewesen, der Onkel Äschbacher.«
Seufzer.
»Da plötzlich ist die Tür aufgerissen worden, das Licht ist angegangen. In der Tür steht der Vater und der Armin. ›So‹ sagt der Vater, ›hab’ ich dich endlich erwischt, Äschbacher. Was fällt dir ein, meine Tochter zu karessieren?‹ Der Onkel hat mich weggestoßen, ist aufgesprungen: ›Du bist besoffen, Witschi!‹ hat er gesagt. Und dann hat er mich fortgeschickt. Mehr hab’ ich nicht hören können. Sie sind dann noch etwa eine Stunde beisammen gesessen. Der Armin war auch dabei. Von dieser Zeit an hat der Onkel kaum mehr mit mir gesprochen. Aber mit dem Vater ist es immer schlimmer geworden, der alte Ellenberger von der Baumschule hat ihm Papiere gegeben, die hat er in Bern umgewechselt. Dann verschwand der Vater immer auf eine Woche oder zwei aus Gerzenstein, kam dann wieder, müd, traurig. Wenn ich ihn fragte, wo er gewesen sei, sagte er nur: ›In Genf.‹ Einmal hab’ ich den Vater zufällig in Bern getroffen. Auf der Hauptpost. Ich hab’ ein pressantes Paket fürs Geschäft aufgeben müssen. Er hat mich nicht gesehen. Er stand vor einem Postfach, nahm Briefe heraus, riss die Kuverts auf und warf sie dann weg. Er sah traurig aus, der Vater, er ging aus der Halle wie ein alter Mann. Ich hab’ dann ein Kuvert, das er weggeworfen hat, aufgelesen. Es kam von einer Bank in Genf.«
»Spekuliert, weiter spekuliert…«, sagte Studer leise und der Untersuchungsrichter nickte.
Man kann den Wendelin entschuldigen, dachte Studer. Er hat’s für die Familie getan. Hat das Geld zurückholen wollen, das Geld der Frau…
Da sprach Sonja weiter:
»Er ist immer öfter zum Ellenberger gegangen, damals.
Er hat auch viel getrunken, der Vater. Nicht regelmäßig. Aber so alle Wochen ein oder zweimal ist er betrunken heimgekommen. Einmal hab’ ich ihm Schnaps holen müssen. Einen halben Liter. Er ist früh in sein Zimmer hinauf. Die Mutter war an dem Abend beim Onkel Äschbacher eingeladen. Sie ist erst spät heimgekommen. Am nächsten Morgen war die Flasche leer. Ich hab’ sie fortgeworfen, damit die Mutter sie nicht sieht.«
Wieder das Schweigen. Man sah es dem Untersuchungsrichter an, dass er ungeduldig wurde. Aber Studer beruhigte den nervösen Herrn mit einer beschwichtigenden Handbewegung.
»Heut’ vor acht Tagen bin ich wie gewohnt um halb sieben heimgekommen. Der Vater war schon da. Er stand im Wohnzimmer, beim Klavier und hörte mich nicht kommen. Ich hab’ geschaut, was er macht. Er hat die Vase, die immer auf dem Klavier steht, in der Hand gehalten, hat sie geschüttelt, es hat geklirrt, dann hat er sie wieder an ihren Platz gestellt und das Herbstlaub geordnet. ›Was machst du da, Vater?‹ hab’ ich gefragt. Er ist ein wenig erschrocken. Ich hab’ dann nicht weiter gefragt. Am nächsten Morgen bin ich als erste aufgestanden. Es waren fünfzehn Patronenhülsen in der Vase. Ja!«
Sonja sah den Untersuchungsrichter an, sah Schlumpf an. Sie schien auf laute Rufe des Erstaunens zu warten. Aber die beiden blieben stumm. Einzig Studer, vor der Schreibmaschine, auf der er noch kein Wort getippt hatte, winkte ab:
»Das wissen wir. Wir haben auch die Tür gefunden, die deinem Vater als Schießscheibe gedient hat…«
Da wurde endlich der Untersuchungsrichter doch von Neugierde geplagt. Und Studer musste von der Entdeckung im dunklen Schuppen erzählen, von dem abgehobelten Rechteck auf der altersschwarzen Tür und von den Einschussöffnungen, die keine Pulverspuren an den Rändern gezeigt hatten.
Der Untersuchungsrichter nickte.
»Und wie war es am Dienstagabend, was haben Sie da getrieben, Fräulein Witschi?«
»Ich bin mit dem Erwin spazieren gegangen«, sagte Sonja und ihr Gesicht blieb bleich. »Wir waren zusammen im Wald, es war ein schöner Abend. Ich bin um elf Uhr heimgekommen. Der Vater war noch nicht zu Hause. Die Mutter ist am Tisch gehockt, in der Küche. Sie schien aufgeregt. Auch der Armin war nicht zu Hause. Ich hab’ gefragt, wo die beiden seien. Die Mutter hat die Achseln gezuckt. ›Draußen‹, hat sie gesagt. Um halb zwölf ist der Armin heimgekommen. Die Mutter hat gefragt: ›Hat er?…‹ Der Armin hat genickt und begonnen seine Taschen zu leeren.«
»Halt!« rief der Untersuchungsrichter. »Herr Studer, schreiben Sie bitte.« Und er diktierte nach den einleitenden Floskeln jedes Zeugenverhörs Sonjas Erzählung.
»Weiter«, sagte er darauf. »Inhalt der Taschen?«
»Eine Browningpistole, eine Brieftasche, ein Füllfederhalter, ein Portemonnaie, eine Uhr. Das alles legte der Armin auf den Tisch. Ich hab’ gezittert vor Angst. ›Was ist dem Vater passiert?‹ hab’ ich immer wieder gefragt.