Im Netz des Lemming. Stefan Slupetzky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Slupetzky
Издательство: Bookwire
Серия: Lemming-Kriminalromane
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939116
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innerlich Revue passieren.

      Natürlich hat der Selbstmord seines Freundes Ben schockiert und bis ins Mark erschüttert, aber seine Tränen waren nicht nur der Traurigkeit geschuldet, sondern auch der Wut. In erster Linie der Wut auf jenen Unbekannten, mit dessen gehässigen Zeilen das Unglück seinen Lauf genommen hat, in zweiter der Wut auf den Lemming.

      „Dieser Bulle, dieser Polivka, sagt Kusch zu dir, und du ziehst gleich den Schwanz ein!“, hat er seinen Vater angebrüllt. „Was ist, wenn einer mir oder der Mama so was antut? Wirst du dann auch nur herumsitzen und chillen? Mach doch etwas! Mach was, Papa!“

      Und der Lemming hat tatsächlich was gemacht. So ruhig, wie es ihm möglich war, hat er die Hand über den Tisch gestreckt. „Dein Handy, Ben. Gib mir dein Telefon.“

      „Machst du dich auf die Suche?“ Ben hat Hoffnung geschöpft. „Ich kann dir auch erklären, wie alles funktioniert, du weißt schon, Jabberpal und so.“ Mit einem flinken Griff hat er sein Smartphone aus dem Hosensack gezogen und dem Lemming in die Hand gedrückt.

      Der aber hat es einfach eingesteckt. „Du kriegst es bald zurück“, hat er zum fassungslosen Ben gesagt. „Aber ich will nicht, dass du dich auf diesen Plattformen herumtreibst. Vorläufig zumindest.“

      Neue Tränen. Und ein neuer Wutausbruch. Nach einer Weile ist der Lemming aufgestanden und hat langsam, Schritt für Schritt, den Tisch umrundet, um sich Ben – wie einem sehr gefährlichen oder sehr scheuen Tier – zu nähern. Endlich war er bei ihm und hat ihn ganz sanft an sich gezogen. Lange hat er Ben umarmt, und Ben, jetzt nur noch leise vor sich hin schluchzend, hat sich an ihn geklammert.

      „Also gut“, hat ihm der Lemming irgendwann ins Ohr geflüstert. „Ich versuch es. Aber nur mit deiner Hilfe. Gut?“

      Ben hat genickt, ohne den Lemming loszulassen.

      „Weißt du, ob der Mario Feinde hatte? Jemand, der ihn abgrundtief gehasst hat? Der ihm Böses wollte?“

      Anfangs ist es Ben noch schwergefallen zu sprechen, aber schon nach kurzer Zeit sind ihm die Worte nur so aus dem Mund gesprudelt.

      „Feinde? Nein, nicht wirklich. Aber richtig mögen hat ihn auch keiner. Die meisten haben ihn gar nicht erst beachtet, und nur selten hat ihn wer gedisst …“

      „Gedisst?“

      „Na, ihn sekkiert. Auf ihm herumgehackt. Der Mario war halt anders als die anderen, und wenn man dazugehören wollte, hat man sich nicht mit ihm abgegeben. Ganz normaler Schulalltag.“

      „Und du?“

      „Was ich?“

      „Du hast dich mit ihm abgegeben.“

      „Sicher. Er war eigentlich ganz nett, und außerdem hat er mir leidgetan.“

      „Heißt das …“, der Lemming hat den Satz nur zögerlich beendet, „dass du nicht dazugehörst?“

      „Geh, Papa. Reden wir jetzt über mich oder den Mario?“

      „Okay, okay. Ich will halt nicht, dass über dich auch so ein Dreck verbreitet wird. Du hast das doch gelesen.“

      „Ja …“ Bens Augen haben wieder feucht geglänzt.

      „Du weißt aber nicht zufällig, wer diese Mama 77 ist?“

      Ein Kopfschütteln. „Die ist in meinen Chats oder auf meiner Seite noch nie aufgetaucht.“

      „Kann man denn rauskriegen, wer hinter so einem Alias steckt?“

      „Nicht leicht. Es gibt Adressen, also Nummern, die man zugewiesen kriegt, wenn man im Internet herumsurft, postet oder etwas mailt. Es wissen aber nur die Telefonfirmen, wer wirklich welche Nummer hat.“

      „Und dort kann man nicht fragen?“

      „Fragen kostet nichts“, hat Ben geschmunzelt. „Das sagst du doch immer, Papa. Aber Antwort wirst du keine kriegen.“

      „Ich verstehe: Datenschutz. Wahrscheinlich braucht man eine richterliche Anordnung. Aber woher hat diese Mama 77 dann erfahren, dass der Mario unter dem Namen Broodalkiller postet?“

      „Keine Ahnung. Eigentlich weiß das nur eine Handvoll Schüler, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass von denen einer diesen Scheiß herumgepostet hat. Ich weiß da aber wen, der sich in diesen Sachen besser auskennt.“

      „Ach, und wen?“

      „Die ersten Klassen haben vor einer Woche einen Kurs gehabt, da war so eine Frau, Georgette hat die geheißen, die hat uns erklärt, worauf man achten muss im Internet, wo die Gefahren sind und so weiter.“

      „Dann war das dieser SI-Kurs, über den du auch dem Mario geschrieben hast?“

      „Genau. SI heißt Sicheres Internet. Der neue Mathelehrer, der Professor Zotti, hat das arrangiert und die Georgette zu uns gebracht; den kann ich nach der Nummer fragen.“

      „Mach das. Aber jetzt …“

      „Bekomm ich jetzt mein Handy wieder?“

      „Nein, Ben, nicht sofort.“

      „Das ist so ungerecht!“, hat Ben gebrüllt, und wieder sind ihm dicke Tränen über das Gesicht gelaufen.

      In diesem Moment hat Klara die Küche betreten, und sie hat natürlich angenommen, dass sich Bens Gebrüll auf Marios Tod bezieht. „Ja, ungerecht, das ist es. Aber leider gibt es nicht nur gute Menschen auf der Welt, mein Schatz. Und vor den bösen sollte man versuchen sich zu schützen.“

      „Gut! Dann sag mir doch, wie ich mich vor dem Papa schützen soll!“ Ohne die Antwort abzuwarten, ist Ben aus der Tür gestürzt.

      „Was hat er denn? Ich meine, außer …“ Klara ist verstummt und hat erstaunt den Kopf geschüttelt.

      „Jedenfalls kein Handy mehr.“

      „Du hast es ihm …?“

      „Ich hab’s ihm weggenommen. Vorläufig.“

      „Vielleicht ist es ja besser so“, hat Klara – wenn auch erst nach einer Weile – nachdenklich gesagt. „Du, Poldi, etwas anderes: Hast du eine Ahnung, ob gerade irgendwelche Staatsbesuche oder gröbere Verkehrsstaus sind?“

      „Nicht dass ich wüsste. Warum fragst du?“

      „Weil mir heut die Patienten wegbleiben. Sogar die angemeldeten. Bis jetzt war nur der alte Kunz mit seinem Dackel da.“

      „Das ist ja seltsam.“

      Seltsam, ja, das war es. Seltsam und beunruhigend, mit anderen Worten: diesem Schlammbadmittwoch durchaus angemessen. So wie auch der Anruf, den der Lemming kurz darauf erhalten hat. Am anderen Ende Doktor Stropek, Chef der Personalabteilung des Schönbrunner Tiergartens. Obwohl prinzipiell ein Freund der Höflichkeit, hat Stropek nicht einmal gegrüßt.

      „Hören S’ mir jetzt gut zu, und keine Widerworte, Wallisch!“, hat er das Gespräch eröffnet, und mit diesem Satz nahm er den monologischen Charakter des Gesprächs vorweg. „Wissen Sie, Wallisch, vieles, wirklich vieles hab ich Ihnen durchgehen lassen in den ganzen Jahren, ich sag nur: aufgehängte Pinguine! Aber was Sie sich da jetzt geleistet haben, also das geht ja nun gar nicht, Wallisch, überhaupt bei uns, wo wir seit jeher eine Anlaufstelle für die Wiener Kinder sind. Wir haben ja nicht nur irgendeinen Dienstleistungsbetrieb, bei uns geht’s ja auch um die Vorbildwirkung! Also Folgendes, damit wir uns die Hässlichkeiten einer Fristlosen ersparen: Sie kommen morgen Früh und holen Ihr Zeug, und zwar in aller Ruhe, und ich geb Ihnen dafür ein Zeugnis mit, dass Sie ein halbwegs akkurater Mitarbeiter waren. Meinetwegen schreib ich auch statt halbwegs akkurat was anderes hin, zum Beispiel so was wie passabel. Und dann nehmen Sie den Wisch und Ihren Hut und gehen nach Haus. Ich will Sie nicht mehr bei uns sehen, am Tag nicht und schon gar nicht in der Nacht. Und was Sie in der Rente anstellen, will ich auch nicht wissen, das werd ich wahrscheinlich eh bald aus den Zeitungen erfahren. Habe die Ehre, Wallisch.“

      „Zweimal Sorgenbrecher.