Im Netz des Lemming. Stefan Slupetzky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Slupetzky
Издательство: Bookwire
Серия: Lemming-Kriminalromane
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939116
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sagt Mario mit einem Achselzucken. Er wirkt nicht gerade stolz, das Thema scheint ihm Unbehagen zu bereiten. Fast erleichtert horcht er auf, als ein Geräusch aus seiner Hosentasche dringt: der Klang einer elektrischen Gitarre, die die ersten beiden Takte von Smoke on the Water intoniert.

      „Was geht?“, fragt Ben.

      Mario zieht ein Smartphone aus der Tasche. Er wischt einen nicht vorhandenen Schmutzfleck vom Display und lauscht ein paar Sekunden lang mit unverhohlener Unlust in den Hörer. „Jetzt schon?“, sagt er. „Ja, okay, wenn’s sein muss.“ Dann steckt er das Handy wieder weg. „Mein Dad. Ich muss jetzt heimfahren.“

      „Junge! Chill dein Leben!“, zetert Ben. „Was ist jetzt mit was Süßem?“

      „Wenn du magst, geb ich dir etwas mit“, meint Klara und zieht eine Lade auf. „Als Marschverpflegung.“

      „Marschverpflegung“, brummt der Lemming. „So, als ob er nach … nach Russland müsste.“ Und weil ihm inzwischen dämmert, was der eine oder andere exotische Begriff der beiden Buben zu bedeuten hat, fügt er ein dezidiertes „Loll!“ hinzu.

      „Voll episch!“, nickt Ben anerkennend. „Alles klar!“

      „Wo wohnst du, Mario?“, fragt Klara, während sie dem Kleinen einen Schokoladenriegel hinhält.

      „Gleich beim Zoo. In der Maxingstraße.“

      „Echt? Da haben wir ja denselben Weg.“ Der Lemming schaut zur Küchenuhr. „Ich muss jetzt sowieso auch aufbrechen.“

      „Mein Dad ist nämlich so was wie ein Cop“, fügt Ben hinzu. „Im Tiergarten.“

      „Damit dort in der Nacht kein Elefant gestohlen wird“, grinst der Lemming.

      Mario betrachtet ihn mit ernster Miene. „Lol“, sagt er dann leise.

      Eine Viertelstunde später sitzen sie nebeneinander in der Straßenbahn, der fünfundfünfzigjährige ergraute Nachtwächter Leopold Wallisch und der elfjährige blonde Schüler Mario Rampersberg. Vor ihnen liegen zwölf Stationen: eine halbe Stunde Reisezeit, die mit Gesprächen überbrückt sein will, wenn sie sich nicht in jenem bleischweren, betretenen Schweigen festfahren soll, das man aus Aufzügen und Wartezimmern kennt. Im Wagen sitzen auch noch andere Fahrgäste, die meisten spielen mit ihren Smartphones, manche mustern Mario mit verstohlen-mitleidigen Blicken. Nur ein alter Mann mit einem grünen Trachtenhut starrt den Lemming vorwurfsvoll an. Wahrscheinlich hält er ihn für Marios Vater und gibt ihm die Schuld an dessen schlecht vernarbter Lippenspalte. Vielleicht ist er aber auch der Meinung, dass Missbildungen in Straßenbahnen nichts zu suchen haben – so wie übrigens auch Kinderlachen, Obdachlose, Ausländer und Schwule.

      „Gehst du mit dem Ben in eine Klasse?“, fragt der Lemming.

      „Nein.“

      „Aha. Ich dachte … Aber in dieselbe Schule?“

      „Ja.“

      „Bist du schon in der Dritten?“

      „Nein.“

      „Auch in der Zweiten?“

      „Ja.“

      „Das heißt, ihr geht in Parallelklassen?“

      Der Kleine nickt, ohne den Lemming anzusehen. Beinah entschuldigend senkt er den Kopf und sagt: „In meiner Klasse hab ich keine Freunde. Und der Ben … Ich find ihn nett. Er schämt sich nicht, mit mir zu reden.“

      Unversehens steigen dem Lemming Tränen in die Augen. Nicht nur, weil ihm Mario so leidtut, sondern auch, weil er so stolz auf Ben ist. „Warum soll er sich denn schämen?“, fragt er mit belegter Stimme, und am liebsten würde er den kleinen blonden Buben in den Arm nehmen, um ihn zu halten und zu trösten.

      „Schauen Sie mich doch an. Ich bin ein Freak.“

      „Das bist du nicht. Wie kommst du denn auf die Idee?“

      „Ich schaue aus wie die totale Missgeburt. Wie eine Strafe Gottes. Wahrscheinlich hat der Araber meine Mama deshalb umgebracht.“

      Der Lemming klappt den Mund ein paar Mal auf und zu, ihm bleibt die Sprache weg. Woher um alles in der Welt hat Mario dieses selbstzerstörerische Denken? Wie um seine stummen Mundbewegungen zu untermalen, schallt plötzlich ein Geräusch durch den Wagen: das Quaken eines Froschs. Marios Handy.

      „Jabberpal.“ Der Kleine wischt über das Display, malt ein großes M darauf, um es zu entsperren, und liest dann eine Nachricht. Gegenüber stößt der Alte mit dem Trachtenhut ein indigniertes Räuspern aus. Der Lemming kramt in seiner Jackentasche, bis er findet, was er sucht: ein Päckchen Malzbonbons.

      „Wollen Sie ein Hustenzuckerl?“ Herausfordernd hält er dem Mann die Schachtel hin. Der Alte tut, als habe er es nicht bemerkt; er rümpft die Nase, dreht sich weg und schließt die Augen.

      „Jabberpal?“, wendet der Lemming sich jetzt wieder Mario zu. „Was ist das?“

      „Eine Plattform.“

      „Ah … Und wofür braucht man das?“

      „Zum Posten und zum Chatten. Es ist ein soziales Netzwerk.“

      „Ah … Und wofür ist das gut?“

      Zum ersten Mal, seit sie vor einer Viertelstunde aufgebrochen sind, schenkt Mario dem Lemming einen Blick. Einen verblüfften, ungläubigen Blick. „Im Ernst jetzt? Lol. Sie wissen nicht, was ein soziales Netzwerk ist?“

      „Na ja, ein bisserl hab ich schon davon gehört: Da treffen sich verschiedene Leute im Computer und erzählen sich, was sie gerade frühstücken oder wo sie auf Urlaub waren.“

      „So zirka.“ Mario wiegt den Kopf. „Das Schöne ist, man kann dort unter einem ausgedachten Namen mit den anderen reden, ohne dass sie wissen, wie man ausschaut oder wie man heißt.“

      „Da reden also Fantasiefiguren miteinander?“

      „Meistens schon. Ich hab dort fast nur Freunde, die mich gar nicht kennen. Nur der Ben und zwei, drei andere wissen, wer ich wirklich bin …“

      „Der Ben ist auch auf dieser Dings, auf dieser Plattform?“

      „Sicher.“

      Klara, denkt der Lemming jetzt bestürzt, hat vorhin untertrieben: Er hat nicht nur die Entwicklung des Internets verpasst, sondern auch die Entwicklung seines Sohnes. Benjamin, der gestern noch auf allen vieren gekrabbelt ist, tanzt heute schon auf virtuellen Plattformen, die er, der Lemming, nie betreten hat. Wenn er den Anschluss nicht verpassen, das Verständnis für Bens Lebenswelten nicht verlieren will, muss er handeln, und er darf das nicht erst morgen tun.

      „Ich glaub, ich könnt noch manches von dir lernen“, lächelt er Mario zu. „Magst du mir zeigen, wie das funktioniert mit diesem Netzwerk?“

      Marios Physiognomie mag ja vielleicht der eines Hasen ähneln, aber seine Reaktion gleicht eher der eines bedrohten Igels. Eines Igels, der sich flugs zusammenrollt und seine Stacheln aufstellt.

      „Sie müssen nicht nett zu mir sein, nur weil ich hässlich bin!“

      Der Kleine spuckt die Worte aus wie etwas Bitteres, das einem auf der Zunge liegt; der Lemming aber sitzt schon wieder sprachlos da und ringt die Hände, hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Verärgerung. Wie kann er diesem Kind nur seinen Selbsthass nehmen, seine Frustration und seine barsche Art der Selbstzerfleischung? Wie um Himmels willen kommt Ben mit Marios Zurückweisung zurecht, sobald er ihn als Freund behandelt? Oder spielt sich die Kommunikation zwischen den beiden ohnehin vollkommen anders ab? Im Loll- und Wetehaa- und Digga-Universum?

      Trost, so überlegt der Lemming, nährt sich immer aus sich selbst: Es geht nicht um die Sachlichkeit und Logik mitfühlender, ermutigender Worte, sondern um den Akt des Tröstens an sich. Darum, dass da jemand ist, der Anteil nimmt. Der einem Hoffnung geben will. So wie ja auch der Sinn des Lebens einzig und allein das Leben selbst ist. Aber das Misstrauen, das Mario der Welt entgegenbringt, macht