Im Netz des Lemming. Stefan Slupetzky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Slupetzky
Издательство: Bookwire
Серия: Lemming-Kriminalromane
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939116
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du, dass ich vor vielen Jahren wirklich bei der Polizei gewesen bin?“, versucht der Lemming es erneut. „Sogar ein Krimineser? Und dass man mich hochkant rausgeworfen hat? Ich sag dir auch, warum: Weil ich zu den Verbrechern netter war als zu mir selbst. Weil ich erst lernen musste, auf mich achtzugeben und mir selbst ein Freund zu sein …“

      „Mich würden sie erst gar nicht nehmen bei der Polizei“, fällt Mario ihm ins Wort. „Ich meine, Bullen haben keine Hasenscharten.“

      „Stimmt doch gar nicht. Nimm zum Beispiel diesen coolen Typen aus den Achtzigern, wie hat der noch geheißen … Hammer, ja, Mike Hammer! Der war sogar Fernsehdetektiv! Okay, er hatte einen Schnurrbart, aber …“

      „Nie im Leben“, unterbricht ihn Mario, „bringt mich irgendwer zum Film – mit oder ohne Bart. Ich lass mich doch nicht fertigmachen wie mein Papa … Darf ich?“ Er zeigt auf die Malzbonbons.

      „Ja, sicher.“

      Mario bedient sich, und er steckt sich das Bonbon gerade in den Mund, als wieder das groteske Quaken seines virtuellen Froschs ertönt. Sofort zieht er das Smartphone aus der Tasche.

      Mittlerweile fahren sie am Bett des Wienflusses entlang, in dem – neben dem in Beton gezwängten und zum Rinnsal regulierten Fluss – die Gleise der U4 verlaufen. Links vor ihnen spannt sich die Kennedybrücke über Fluss und U-Bahngleise, dort befindet sich auch eine Straßenbahnstation, die vorletzte vor dem von Mario und dem Lemming anvisierten Reiseziel. Schon geht die Tramway in die Kurve.

      „Jabberpal?“ Der Lemming lächelt Mario zu.

      Der Kleine aber lächelt nicht zurück. Den Kopf nach vorn geneigt, starrt er das Handydisplay an. Ein Display, dessen grüner Schimmer sich wie eine jähe Übelkeit auf Marios Gesicht legt, sich in seinen Augen widerspiegelt.

      Feuchte Augen.

      „Ich muss raus.“ Der Bub springt auf und stürzt zur Tür, gerade als die Straßenbahn in die Station einfährt. Bevor der Lemming reagieren kann, öffnet sich die Falttür, und Mario springt ins Freie.

      „Warte!“ Auch der Lemming ist jetzt aufgesprungen, um dem Kleinen nachzulaufen. Fluchend zwängt er sich durch die schon wieder zuklappende Tür, fünf Meter hinter Mario, der die Straße überquert und auf das eiserne Brückengeländer zusteuert, ohne auf den Verkehr zu achten. Bremsen quietschen, Autos hupen, Fäuste ballen sich hinter Wagenfenstern. Mario läuft einfach weiter. Läuft auf das Geländer zu.

      „Bleib stehen!“ Der Schrecken steht dem Lemming ins Gesicht geschrieben; wie der Trailer eines Films spielt sich das Kommende vor seinem inneren Auge ab. Nur dass der Bub in seiner Tagtraum-Fantasie nicht Mario ist, sondern Benjamin. Sein Sohn, das Zentrum seines Lebens. Ben.

      Der Schrecken wird zum Grauen, das Hämmern seines Herzens sprengt ihm fast die Brust. „Herrgott, so bleib doch stehen!“ Mit einem Hechtsprung weicht der Lemming einem Motorroller aus, rennt weiter. Fast hat er den Buben, der gerade auf die Brüstung klettert, eingeholt. Er schnellt nach vorn, mit ausgestrecktem Arm, erfasst den Ranzen, der auf Marios Rücken hängt, greift mit der Rechten nach und krallt die Hand in Marios Jackenkragen.

      Doch der Kleine ist bereits gesprungen. Schon sackt er nach unten, bis der Klammergriff des Lemming ihn zum Stillstand kommen lässt. Jetzt hängt er stumm in seinen Jackenärmeln, acht Meter über den U-Bahngleisen, und der Lemming hakt sein rechtes Bein in eine Strebe des Geländers, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er wird nicht loslassen, wird seinen Griff nicht lockern. Nicht in diesem Leben.

      „Hilf mir, Mario …“, ächzt er. „Halt dich vorne an den Rucksackgurten fest … Wir schaffen das, wir beide …“

      „Lol“, sagt Mario und hebt die Arme.

      Wie ein Windhauch klingt es, als er aus den Ärmeln schlüpft. Dann fällt er, und dem Windhauch folgt das dumpfe Poltern seines Kinderkörpers, der gegen die Windschutzscheibe einer einfahrenden U-Bahn schlägt.

      Diese bleierne Müdigkeit. Als wäre man von Kopf bis Fuß in eine schwere Steppdecke gehüllt. Und trotzdem diese Kälte in den Gliedern. Vor dem weitläufigen Wolfsgehege flattern Fledermäuse durch die Dunkelheit: Es gibt hier auch ein Leben außerhalb der Käfige und Volieren, ein freies, wildes Leben.

      Sternenklar spannt sich der Nachthimmel über den Zoo. Der Lemming sitzt auf einer der Besucherbänke, um die letzten Stunden noch einmal Revue passieren zu lassen. Fast fünf Stunden, um genau zu sein.

      Am Anfang war es völlig leer in seinem Kopf. Er ist nur dagestanden, Marios Rucksack, Marios Jacke in den Händen, und hat über das Geländer auf den Gleiskörper gestarrt. Da unten war es ruhig, so ruhig, als hätte irgendein verrückter Gott die Uhren angehalten. Dann der erste eigentümliche Gedanke: Wenn die Zeit stillstehen kann, muss man sie doch auch zurückdrehen können. Und der zweite: Wie wird Ben diese Tragödie verkraften …

      Nach gefühlten fünf Sekunden sind auch schon die Einsatzwägen eingetroffen. Unten auf den Gleisen weiße Rettungssanitäter, oben auf der Brücke blaue Polizisten. Doch die Sanitäter haben bald den dunkelgrauen Herren von der Bestattung Platz gemacht.

      „Haben Sie was mitbekommen?“ Eine junge Polizistin hat den Lemming fragend angesehen. Auf sein stummes Nicken hin hat sie den Blick gesenkt und Marios Schultasche gemustert. „Ist das Ihre?“

      Sie hat ihm den Ranzen abgenommen, Marios rote Jacke aber schlichtweg übersehen. Ihm selbst ist auch nicht in den Sinn gekommen, sie der Polizei zu übergeben, schließlich hatte er sich ja noch kurz davor geschworen, sie nicht loszulassen. Stunden später erst, bei seinem Eintreffen im Tiergarten, hat er die Jacke auf die Kleiderablage im Wächterhaus gehängt.

      Ja, er ist arbeiten gegangen, hat sich – zwar verspätet, aber doch – zu seinem Nachtdienst in Schönbrunn gemeldet. Nur nicht heimfahren, nur nicht dahin, wo am späten Nachmittag alles begonnen hat. Stattdessen einfach nur allein sein mit sich und dem nachtschwarzen Zoo, den verschlafenen Urwald durchstreifen, der das Dickicht seiner wild mäandernden Gedanken widerspiegelt.

      In der Finsternis des Wolfsgeheges glimmen gelbe Augenpaare auf, um nach Sekundenbruchteilen wieder zu verlöschen.

      Marios Vater. Wer wird es ihm sagen? Wahrscheinlich hat ihn die Polizei schon informiert. Das Elend dieses Mannes ist nicht vorstellbar, so einen Schmerz kann doch kein Mensch aus Fleisch und Blut ertragen: Vor drei Jahren hat er auf die brutalste Art die Frau verloren, und jetzt … Wie soll man jemals wieder froh werden, wenn einem so etwas geschieht? Wie soll man überhaupt noch weiterleben, essen, schlafen, atmen können, Tag für Tag gefangen in der eigenen zerstörten Existenz?

      Der Lemming denkt an Ben und Klara, und er stellt sich vor, das Schicksal Rampersbergs hätte ihn selbst ereilt. Die Vorstellung zerreißt ihn förmlich. Er schluchzt auf, schlägt sich die Hände vors Gesicht. Er beugt sich vor, den Kopf noch immer in den Händen, und weint stumm. Erst als die Tränen nach und nach versiegen, mischt sich eine Spur von Dankbarkeit in seine Trauer. Dankbarkeit dafür, dass er ein besseres Los gezogen hat als Marios Vater, Dankbarkeit für diese große Ungerechtigkeit des Schicksals. Und obwohl er sich für seine Regung schämt, so ist es dennoch eine Scham, mit der er besser leben kann als mit dem Tod seiner Familie.

      Marios Tod wirft seinen Schatten trotzdem auch auf sie.

      Wie soll ich es nur Ben erklären, überlegt der Lemming. Auf dem Herweg hat er Klara angerufen, lange haben sie gesprochen und am Schluss entschieden, Ben am nächsten Tag nicht in die Schule gehen zu lassen. Wenn der Lemming morgen heimkommt, werden sie versuchen, ihrem Sohn den Selbstmord seines Freundes schonend beizubringen.

      Von Südwesten her ertönt mit einem Mal ein heiserer Ruf, gefolgt von einem harten Klappern. Dort steht die Voliere der Habichtskäuze, die einander so vor Eindringlingen warnen. Vielleicht streift ein Marder durch den Wald.

      Warum hat Mario das getan? Der Lemming ruft sich die Straßenbahnfahrt in Erinnerung, Marios seltsames, teils Nähe suchendes, teils schnippisches Verhalten, seinen Hang zur Selbsterniedrigung. Hat ihn der Mord an seiner Mutter so