Im Netz des Lemming. Stefan Slupetzky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Slupetzky
Издательство: Bookwire
Серия: Lemming-Kriminalromane
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939116
Скачать книгу
Regenwaldhauses, wo sich die Teiche des Freilandaquariums befinden, ein sonores Quaken: Es herrscht Laichzeit bei den Springfröschen.

      Ein Quaken? Hat die Katastrophe denn nicht überhaupt erst mit dem unseligen Quaken von Marios Handy angefangen? Er hat eine Mitteilung bekommen, und in dieser Nachricht muss etwas gestanden sein, das ihn – im wahrsten Sinn des Wortes – aus der Bahn geworfen hat. Aber das Handy liegt jetzt wohl zerschmettert auf den Schwellen der U4.

      Die Habichtskäuze spielen heute Nacht verrückt. Schon wieder dieser heisere Warnruf, dieses Schnabelklappern. Seufzend steht der Lemming auf; er kann den nachtwachenden Käuzen schließlich nicht die ganze Arbeit überlassen. Dienst ist Dienst.

      Er steigt den Waldweg zum Tirolerhof bergan. Das Mondlicht bricht nur hin und wieder durch die Baumkronen; die Taschenlampe hat er wie so oft im Wächterhaus vergessen. Achtsam setzt er Schritt vor Schritt, nach einer Weile aber bleibt er stehen und lauscht. Tatsächlich: Er vernimmt ein leises Scharren, ein Scharren wie von Pfoten oder Hufen auf dem trockenen Boden. Ehe er weiß, wie ihm geschieht, kommt aus der Dunkelheit ein Schatten auf ihn zu, ein breiter, untersetzter Schatten, ja ein Schatten wie … von einem Bären.

      Jetzt nur keinen Fehler machen: keine Drohgebärden, keine hastigen Bewegungen, vor allem keine Furcht zeigen, ganz ruhig bleiben und nicht davonlaufen. Der Angstschweiß bricht dem Lemming aus den Poren.

      Immer näher kommt der Schatten, trottet direkt auf ihn zu. Vielleicht hat ihn das Tier ja überhaupt noch nicht bemerkt; erst vor zwei Monaten hat Klara ihm erzählt, dass Bären zwar einen vortrefflichen Geruchssinn haben, aber keine guten Augen. Noch acht Meter, noch sechs, dann nur noch vier … Der Lemming richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Er breitet ruckartig die Arme aus und brüllt, so laut er kann: „Geh scheißen, Bär!“

      Der Schatten zuckt so jäh zurück, dass er ins Straucheln kommt; mit einem heiseren Schrei stürzt er zu Boden.

      Ein Moment der Stille. Dann eine erboste Männerstimme: „Sagen S’, Wallisch, sind Sie völlig wahnsinnig geworden? Um ein Haar hätt mich der Schlag getroffen!“ Fluchend rappelt sich der Schatten hoch, um sich den Staub von seinem Tweed-Sakko zu wischen.

      „Chefinspektor?“, fragt der Lemming. „Chefinspektor Polivka?“

      „Wer sonst? Sie werden doch wohl nicht wirklich einen Bären erwartet haben.“

      „Nein, natürlich nicht. Mit Ihnen hab ich trotzdem nicht gerechnet. Wie sind Sie denn überhaupt ins Tiergartengelände reingekommen?“

      Polivka schnaubt halb belustigt, halb gelangweilt auf. „Ich bin ein Krimineser, Wallisch. Schon vergessen?“

      Nein, natürlich hat der Lemming nicht vergessen, dass der gute Polivka Ermittler bei der Kriminalabteilung für Gewaltverbrechen ist. Erst vor zwei Jahren haben sie mit vereinten Kräften eine Mehrfachmörderin verfolgt, der Lemming, weil ihn Klaras Neffe dazu überredet hat, und Polivka, weil er vom Lemming in die Sache mit hineingezogen wurde. Dass die beiden Männer wider Willen eine gewisse Sympathie verbindet, findet ab und zu in der gemeinsamen inbrünstigen Vernichtung alkoholischer Getränke seinen Niederschlag. Wenn sie einander dann in fortgeschrittenem Stadium das eine oder andere persönliche Geheimnis anvertrauen, tun sie das aber nach wie vor mit einem distanzierten Sie. Das Duzen ist und bleibt tabu.

      Verwunderlich nur, dass der Chefinspektor relativ gemäßigt auf den Schrecken reagiert, den ihm der Lemming eingejagt hat. Denn im Grunde passt das gar nicht zu seiner cholerischen und nachtragenden Art. Mag sein, dass ihm sein klammheimliches Eindringen ins Zooterrain auf dem Gewissen lastet. Oder dass er schlichtweg aus der Übung ist: Seit seine Frau Mama mit seinem Vorgesetzten Oberst Schröck ein Techtelmechtel angefangen hat, scheint Polivka nur noch sporadisch mit der alten Frau zu streiten. Nicht, dass er die Liaison goutieren würde, aber wenn er nach der Arbeit heimkommt und die Mutter wieder einmal ausgeflogen ist, fehlt schlicht der Anlass für Zerwürfnisse. Ja, Polivka wohnt immer noch in seinem Elternhaus: Statt eine eigene Wohnung anzuschaffen, steckt er seinen Lohn lieber in Flugtickets nach Frankreich, wo Sophie lebt, seine Herzensdame, seine gallische Geliebte, seine Gauloise.

      „Jetzt sagen Sie schon, Chefinspektor, was führt Sie zu nachtschlafender Stunde in den Tiergarten?“

      „Wir müssen reden, Wallisch.“

      „Und worüber?“

      „Kommen Sie.“

      Polivka zieht den Lemming Richtung Elefantenpark, hinter dem sich der Wirtschaftshof, die Flugvolieren und das Wächterhaus befinden. Allerdings ist dieses Wächterhaus vor ein paar Jahren zur Sicherheitszentrale hochgerüstet worden: Auf sechs Monitoren flackern Bilder der unzähligen am Tiergartengelände installierten Überwachungskameras. Der Lemming müsste also gar nicht mehr hinaus, er könnte sich bei seinen Nachtdiensten auf virtuelle Rundgänge beschränken.

      Nachdenklich betrachtet Polivka die Bildschirme und setzt sich auf ein kleines, abgewetztes Sofa, das neben dem Schaltpult steht. „Okay“, sagt er, ohne den Lemming anzusehen, „warum ich hergekommen bin, ist, sagen wir, ein bisserl eine heikle Angelegenheit … Mit anderen Worten: Es gibt ein gehöriges Problem.“

      „Das wär ja ganz was Neues“, antwortet der Lemming bitter. „Aber gut, erzählen Sie, mich kann heute ohnehin nichts mehr erschüttern.“

      Polivka atmet tief durch und räuspert sich. „Es ist da vorhin eine Sache bei uns reingekommen, der ich nachgehen muss. Ein Mordfall, noch dazu ein ausgesprochen ungustiöser. Heut am Nachmittag hat sich im Zehner, also in der Straßenbahn, ein älterer Mann an einen elfjährigen Schulbuben herangemacht. Hat sich laut einer Zeugenaussage schon drüben in Ottakring im halbleeren Wagen zu ihm gesetzt, ihn angesprochen und ihm Zuckerln angeboten. Klassische Geschichte. Aber wie der Bub dann bei der Kennedybrücke aus der Tram gesprungen und vor ihm davongelaufen ist, ist er dem Kleinen nach. Er hat den Buben eingeholt, gepackt und über das Geländer auf das U-Bahngleis geworfen.“

      Mich kann heute ohnehin nichts mehr erschüttern … Hat der Lemming das gerade noch gesagt? Jetzt steht er da, mit weichen Knien und einer Farbe im Gesicht, die jener der blassgrauen Bilder auf den Monitoren gleicht.

      „Die Polizei hat Ihre Daten aufgenommen, Wallisch, also bin ich gleich hierhergekommen, noch bevor sich die Kollegen auf den Weg machen. Jetzt setzen Sie sich einmal hin, sonst klappen S’ mir am Ende noch zusammen. Gut, und jetzt erzählen Sie: Wie hat sich die Sache abgespielt?“

      Der Lemming tut es. Langsam, stockend kommen ihm die Worte aus dem Mund, es ist eine Tortur, sich mit der Schilderung des echten Grauens von falschen Vorhaltungen reinwaschen zu müssen. Polivka hört zu, mit ernster, konzentrierter Miene.

      „Also hat der Kleine anscheinend auf eine Nachricht reagiert, die jemand ihm geschickt hat“, brummt er schließlich. „Und wo ist jetzt dieses Handy?“

      „Keine Ahnung. Hat die Spurensicherung es nicht gefunden? Unten auf den Schienen?“

      „Nein“, meint Polivka und fügt dann stirnrunzelnd hinzu: „Sagen Sie, Wallisch, haben Sie das gerade auch gehört? Sind Ihnen vielleicht irgendwelche Frösche ausgekommen?“

      „Frösche?“ Eben hat der Lemming wieder etwas Farbe angenommen, als er neuerlich erbleicht. Er starrt Polivka an, springt auf und läuft zur Kleiderablage, auf der das letzte Stück Erinnerung an ein kleines, unerfülltes Leben hängt: Marios rote Jacke.

      In der rechten Außentasche steckt das Smartphone.

      An Broodalkiller – privat

       von Bowserzorn

       14. Mai 2019, 21:55

       Hey broodal, hast du meinen Dad gut abgeliefert? Schläfst du schon? Ich hab den Mama 77-Scheiß gerade erst gelesen: Omg, wie krank ist das denn! Aber denk an den SI-Kurs, lass dich nicht von so was unterkriegen!

       Also dann bis morgen in der Schule, B

      „Warum die Buben in dem Alter immer gar so martialisch sein müssen“, knurrt Polivka. „Ich meine: Broodalkiller, Bowserzorn … Aber wahrscheinlich waren wir ja als Kinder auch so.“

      „Wenn