VII. Würdigung der historischen Entwicklung
3.27
Bei allen Vorbehalten gegen Vergröberungen lassen sich für die historische Entwicklung doch gewisse Grundlinien aufzeigen, deren man sich für ein tieferes Grundverständnis doch vergewissern sollte.
1. Von der Personal- zur Realexekution
3.28
Ein deutlicher Trend der historischen Entwicklung liegt in der Zurückdrängung der Personalexekution. Die Personalexekution verliert ihre innere Rechtfertigung, wenn der Ungehorsam gegen das Urteil nicht mehr als kriminelles oder doch quasi kriminelles Unrecht betrachtet wird. Wichtig ist vor allem, dass die Personalexekution ursprünglich durchaus Mittel der Geldvollstreckung ist und nicht etwa der Handlungs- oder Unterlassungsvollstreckung, die erst später entstanden ist. Die Personalvollstreckung war mit christlichen Vorstellungen teilweise bereits schwer vereinbar, den entscheidenden Stoß hat dann aber der Personalexekution ohne Zweifel die Menschenrechtsbewegung des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts gegeben; denn mit menschlichen Freiheitsrechten harmoniert der Zugriff auf die Person vor allem dann kaum, wenn auf der Gläubigerseite nur Vermögensrechte auf dem Spiele stehen und ein Verschulden des Schuldners ganz fehlt oder bloß in fahrlässigem Wirtschaften besteht. Nur wo die Naturalexekution von Handlungen oder Unterlassungen die Willensbeugung unausweichlich erheischt, ist die Personalexekution als Ultima Ratio bleibendes Element des modernen Vollstreckungsrechts. Der Wandel von der Personal- zur Realexekution ist ein wesentlicher Schritt zur Humanisierung der Vollstreckung für den Schuldner.
2. Geldvollstreckung und Naturalvollstreckung
Schrifttum:
Zimmermann, The Law of Obligations, 2. Aufl. 1993, S. 770 ff.; Nehlsen-v. Stryk, Grenzen des Rechtszwangs: Zur Geschichte der Naturalvollstreckung, AcP 193 (1993), 529; Rütten, Zur Entstehung des Erfüllungszwangs im Schuldverhältnis, in: FS Gernhuber, 1993, S. 939 ff.
3.29
Das Verhältnis von Geldvollstreckung und Naturalvollstreckung ist durch ein ursprüngliches Übergewicht der Geldvollstreckung geprägt. Das Prinzip der Geldvollstreckung, das der römischrechtlichen Auslösung und damit der Personalvollstreckung seine Entstehung verdankt, war im deutschen und noch mehr im ausländischen Recht außerordentlich lebenskräftig. Ob man das Prinzip der Geldkondemnation dem Verfahrens- bzw. Vollstreckungsrecht überhaupt zurechnen soll oder nicht besser dem materiellen Recht, wo dann die Abgrenzung zwischen (primären) Naturalerfüllungsansprüchen und (sekundären) Schadensersatzansprüchen verläuft, ist eine offene Frage, die letztlich mit dem prozessualen oder materiellrechtlichen Verständnis des Anspruchs zusammenhängt und damit mit dem grundsätzlichen Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht (hierzu etwa § 893 einerseits und art. 1142 ff. französischer C.c. andererseits). Die Auslösungssumme des römischen Rechts brachte ursprünglich eine Abmilderung der strengen Personalhaftung, in der Folgezeit führte die Geldkondemnation aber letztlich zur Möglichkeit, sich vom Recht freizukaufen, und konnte die Rechtsentwicklung vielleicht deshalb nicht dauerhaft prägen. Die Endphase der verschiedenen Rechtssysteme kennt jedenfalls Naturalerfüllungsanspruch und Naturalvollstreckung. Warum hier die Entwicklung in Deutschland schneller und deutlicher verlaufen zu sein scheint als im romanischen oder angloamerikanischen Rechtskreis (s. Rn. 59.24, 59.51, 59.66, 59.104), ist schwer zu begründen; vielleicht hat die Ungehorsamsstrafe des Mittelalters neben dem kognitialen Vollstreckungsrecht Justinians eine prägende Rolle gespielt. Natürlich steckt in der Naturaldurchsetzung einer Rechtspflicht immer ein härterer Zugriff auf Schuldner mit fast totalitärem Charakter als in der bloßen Geldhaftung bei Nichterfüllung, die viel Verhaltensspielraum lässt. Auch in der Gegenwart ist deshalb das Verhältnis von Naturaldurchsetzung und Geldersatz für viele Pflichten keineswegs ausdiskutiert[6]. Fest steht aber die Tendenz moderner Rechtsordnungen zur Naturalvollstreckung[7].
3. Parteimacht und Gerichtsmacht
3.30
Die frühen Vollstreckungsformen verwirklichen sich als Fortentwicklung der Selbsthilfe im Parteihandeln. Die fortschreitende Monopolisierung der Gewalt beim Staat und seinen Gerichten führt dann mehr und mehr zur gerichtsförmigen Vollstreckung, die im gemeinen Prozess einen gewissen Höhepunkt erreicht. Man könnte versucht sein, die weitgehende Mediatisierung des Gläubigers als Antithese zum Selbsthilfecharakter früher Vollstreckung zu deuten. Sie harmoniert natürlich auch mit dem formalistischen Erkenntnisverfahren des gemeinen Prozesses[8] und mit dem gerichtsorientierten gemeinen Konkurs[9]. Die französische Vollstreckung, die der Revolution mit ihren Freiheitsidealen entwachsen war, schuf dann wieder das historische Gegengewicht parteiorientierter und dezentralisierter Vollstreckung. Man kann nicht behaupten, dass die Rechtsgeschichte die Effektivität gerichtlich geleiteter und organisierter Vollstreckung bestätigen würde, die notwendig eine Reglementierung bis hin zur perfektionierten Vollstreckungsreihenfolge (gradus executionis) beinhaltet. Es war vielmehr die Schwerfälligkeit dieser Vollstreckungsorganisation, die dann den Siegeszug des französischen Modells erleichterte. Diesen Gang der Geschichte sollte man sich bei Reformplänen immer vergegenwärtigen.
4. Humanisierung und Schuldnerschutz
3.31
Die historische Entwicklung zur Beschränkung der Vollstreckungsmöglichkeiten ist unverkennbar. Mit der Abschaffung der Personalexekution als Mittel der Geldvollstreckung geht die stetige Vermehrung zugriffsfreien Schuldnervermögens einher. Waren ursprünglich christliche Einflüsse förderlich, so war es später wiederum der politische Durchbruch der Menschenrechte, der die Fortentwicklung prägte. Neben den Individualschutz als Grundgedanken trat im Sozialstaat des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit, die Allgemeinheit vor sozialhilfefälligen Schuldnern zu bewahren, die den Schuldnerschutz stark stimulierte. Die Reihenfolge der Vollstreckungsarten (mobilia, immobilia, res incorporales) scheint dagegen weniger Erwägungen des Schuldnerschutzes zu verwirklichen als auf Praktikabilitätserwägungen zu beruhen; sie existierte schon, als der Schuldnerschutz noch geringe Ausformung erfahren hatte und trägt der tatsächlichen Zugriffsmöglichkeit Rechnung. Ihre – vereinzelte – Deutung im Sinne eines Sozialschutzes ist ein recht spätes Phänomen.
§ 4 Stand und Reform des Einzelvollstreckungsrechts
Schrifttum (Auswahl):