Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Bruns
Издательство: Bookwire
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Год издания: 0
isbn: 9783811487208
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römischrechtlicher Geldkondemnation und Konsequenz der Deregulierung der Vollstreckung – so gut wie nicht (art. 1142–1144 C.c.), sodass der „huissier“ als Gläubigerbeauftragter hauptsächliches Vollstreckungsorgan war. Einwendungen gegen die Vollstreckung waren ebenso wie Drittrechte beim Tribunal de grande instance durch Nichtigkeits-, Aufhebungs- oder Distraktionsklage zu verfolgen, das regelmäßig im abgekürzten référé-Verfahren zu entscheiden hatte; es gab also keine fortdauernde Zuständigkeit des ursprünglich befassten Prozessgerichts („Desaisierungsprinzip“), vielmehr war eine spezielle vollstreckungsgerichtliche Zuständigkeit geschaffen. Gegen den Gerichtsvollzieher musste der Gläubiger Erfüllungsklage erheben. Die Wahl der Vollstreckungsarten stand dem Gläubiger frei (Ausnahme: Vorrang der Mobiliarvollstreckung bei Geschäftsunfähigen, art. 2092, 2206 C.c.). Der Code de procédure civile galt in Deutschland voll oder modifiziert für Rheinpreußen, Rheinhessen, Rheinbayern, Westfalen und das Großherzogtum Berg. Die neuen Prozessordnungen von Hannover, Braunschweig, Oldenburg, Lübeck, Baden, Württemberg und Bayern nahmen Parteidisposition, Dezentralisierung und Trennung von Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren als Grundthemen moderner Vollstreckung teilweise auf.

      3.21

      Die Reichszivilprozessordnung von 1879 schuf auf der Basis verschiedener Entwürfe (hannoverscher, preußischer, norddeutscher Entwurf) dann ein Vollstreckungssystem, das französischen Neuerungen und gemeinrechtlicher Tradition gleichermaßen Rechnung trug. Die ZPO übernahm die Trennung von Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren und ließ den mit Klausel versehenen Titel als Grundlage der Vollstreckung – ohne actio iudicati oder Exekutionsgesuch – genügen. Der Gläubiger hatte direkten Zugang zum Vollstreckungsorgan und freie Wahl der Vollstreckungsart. Neben dem Gerichtsvollzieher nach französischem Vorbild stellte die ZPO aber das Vollstreckungsgericht als gewichtiges Vollstreckungsorgan der Forderungspfändung und Immobiliarvollstreckung. Die Rechtsbehelfe wurden aufgeteilt: formelle Mängel zum Vollstreckungsgericht (französisches Vorbild), materielle Einwände zum Prozessgericht (gemeinrechtliches Vorbild). Die Vollstreckungsarten orientierten sich am gemeinen Vollstreckungsrecht, berücksichtigten aber anders als das französische System im Einklang mit dem materiellen Recht stärker den Grundsatz der Naturalvollstreckung; dabei war für Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung nach gemeinrechtlichem und preußischem Vorbild das Prozessgericht erster Instanz Vollstreckungsgericht. Nicht übernommen ist von der ZPO weiter das Gleichrangprinzip unter mehreren pfändenden Gläubigern (art. 656 c.p.c.), das sich in Frankreich vor allem auch aus der Beschränkung des Insolvenzverfahrens auf Kaufleute bzw. Gewerbetreibende erklärt (hierzu Rn. 59.7, 59.8, 59.11, ferner Bd. II Rn. 3.20, 39.1). So präsentiert sich das Vollstreckungsrecht der ZPO als eigenständiges Gebäude aus gemeinrechtlichen und französischen Bausteinen. Die neuen, ideologisch begründeten Anstöße kamen aber – ähnlich wie im Erkenntnisverfahren – aus Frankreich.

      Schrifttum:

      Lippross, Grundlagen und System des Vollstreckungsschutzes, 1983, S. 33–83.

      3.22

      Das deutsche Vollstreckungsrecht in seiner ursprünglichen Gestalt war also – wie bereits dargestellt – wesentlich durch das französische Recht beeinflusst worden: Das Vollstreckungsverfahren ist kein Amtsverfahren in dem Sinne, dass die Vollstreckungsorgane die Zwangsvollstreckung von sich aus durchführen, auch nicht in dem Sinne, dass sie von Amts wegen auf einen Ausgleich der Gläubiger- und Schuldnerinteressen bedacht sind. Vielmehr beschränkt sich das Vollstreckungsrecht darauf, „Befugnisse und Gegenbefugnisse zuzuteilen und den Gebrauch dem Belieben der Beteiligten anheim zu geben“[1]. Der Gläubiger „beauftragt“ das Vollstreckungsorgan mit der Durchführung der Zwangsvollstreckung. Er bestimmt im Rahmen des Gesetzes den Gegenstand des Zugriffs, hat also bei der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen die Wahl, ob er in das bewegliche oder unbewegliche Vermögen des Schuldners vollstrecken will. Er setzt auch die Zeit des Zugriffs fest, kann also sofort nach Erlangung des Titels oder erst nach geraumer Zeit zugreifen; er kann die Zwangsvollstreckung durch entsprechende Weisung an das Vollstreckungsorgan sistieren oder auch den Pfandgegenstand freigeben. Für ein gestaltendes Eingreifen des Vollstreckungsgerichts ist nur geringer Raum gewesen; selbst wenn etwa zu erwarten war, dass der Schuldner bei Gewährung von Ratenzahlungen den Gläubiger befriedigen kann, hat das Gericht keine Möglichkeit, von sich aus Ratenzahlungen zu bewilligen.

      3.23

      Diese ursprüngliche Grundtendenz des Gesetzes – die man als „Parteibetrieb“ bezeichnen kann – ist durch die Novellengesetzgebung erheblich verändert worden. Wesentliche Züge dieser Änderung sind die stärkere Betonung der sozialen Seite der Zwangsvollstreckung und – um ein Schlagwort zu gebrauchen – die „Aktivierung“ des Gerichts.

      3.24

      Zum Schutze des Schuldners ist – um nur einige Beispiele zu nennen – der Kreis der unpfändbaren Gegenstände und Forderungen erweitert worden, so der Bereich der unpfändbaren Sachen nach § 811. Bei der Forderungspfändung ist der früher auf Einkünfte aus abhängiger Arbeit beschränkte Pfändungsschutz auf Einkünfte aus freier Arbeit und auf Einkommen aus unständiger Beschäftigung, wie z.B. bei Agenten, Künstlern usw. ausgedehnt worden (§§ 850, 850i). Gewisse zweckgebundene Forderungen (z.B. Urlaubsgeld, Weihnachtsvergütungen) sind ganz oder zu einem erheblichen Teil für unpfändbar erklärt worden (§ 850a). § 817a und – entsprechend – § 85a ZVG schützen den Schuldner vor Vermögensverschleuderung durch Versteigerung zum Gebot weit unter Wert.

      3.25

      Die Regelungsbefugnis des Gerichts ist erweitert worden. So gibt etwa § 30a ZVG dem Richter das Recht, das Zwangsversteigerungsverfahren einstweilen einzustellen, „wenn Aussicht besteht, daß durch die Einstellung die Versteigerung vermieden wird, und wenn die Einstellung nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Schuldners sowie nach der Art der Schuld der Billigkeit entspricht“.[2] In diesen Bereich gehört vor allem die umfassende „Schuldnerschutzbestimmung“ des § 765a, wonach das Vollstreckungsgericht „eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen kann, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist“. Bemerkenswert ist auch die Regelung des § 721. Hier ist bereits dem Prozessrichter eine recht weitgehende Regelungsbefugnis bei der Festsetzung von Räumungsfristen eingeräumt.

      3.26

      Die hier angedeutete Entwicklung des Zwangsvollstreckungsrechts hat sich nach und nach im Wege der Novellengesetzgebung meist aus besonderem Anlass (Wirtschaftskrise nach 1929 – 2. Weltkrieg – Not der Nachkriegszeit) vollzogen[3]. Ihre Ergebnisse sind durch das Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiet der Zwangsvollstreckung vom 20.8.1953 (BGBl. I 952) in die ZPO und das ZVG übernommen worden, freilich unter Anpassung an veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse. Vollstreckungsschutzbestimmungen zu Gunsten besonderer Personenkreise sind teilweise auf Sondergesetze verstreut geblieben (§§ 54 ff. SGB I). Im neueren Vollstreckungsrecht wird der Gedanke eines sozialen Schuldnerschutzes zwar durchaus beibehalten, die eigentliche Funktion der Zwangsvollstreckung – die Verwirklichung des Rechts des Gläubigers – aber