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Grundentscheidung für die mitgliedstaatliche Verwaltung
Im Ergebnis ist der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten keine absolute Garantie des nationalen Verwaltungsverfahrens und der nationalen Verwaltungsorganisation, er ist jedoch auch mehr als eine rein deklaratorische Zustandsbeschreibung.[86] Vielmehr kommt in ihm eine abwägungsfähige „Grundentscheidung der Verträge für die mitgliedstaatliche Verwaltung“[87] und das mitgliedstaatliche Verfahrensrecht zum Ausdruck. Normativ ist der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bereits in Art. 4 Abs. 1 EUV sowie in der Stoßrichtung der die Kompetenzausübung der EU steuernden Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV verortet. Mit dem Vertrag von Lissabon kommt er nunmehr auch in Art. 291 Abs. 1 und 2 AEUV zum Ausdruck, wonach die Mitgliedstaaten alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen „nach innerstaatlichem Recht“ ergreifen.
(2) Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip
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Ausprägung des europäischen Solidaritätsprinzips
Darüber hinaus ist anerkannt, dass der die Kompetenzen der EU auf dem Gebiet des Verwaltungsvollzugs begrenzende Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten seinerseits durch die Prinzipien der Äquivalenz und Effektivität begrenzt wird (sog. Milchkontorgrundsätze).[88] Normativ wurzeln die Prinzipien der Äquivalenz und Effektivität im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit des Art. 4 Abs. 3 EUV und stellen verfahrensrechtliche (prozedurale) Ausprägungen des europäischen Solidaritätsprinzips dar, das im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund seinerseits ein Korrektiv bzw. Gegengewicht zum Subsidiaritätsprinzip bildet.[89] Indem sie dem Zweck dienen, die einheitliche und effektive Anwendung des materiellen Unionsrechts trotz bestehender verfahrensrechtlicher Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, sichern sie den für die Funktionsfähigkeit der EU unabdingbaren Anwendungsvorrang des Unionsrechts ab.
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Interesse der Union
So darf nach dem Äquivalenzprinzip (auch: Diskriminierungsverbot) nationales Verwaltungsrecht zwischen unionsrechtlichen und nationalen Sachverhalten nicht zum Nachteil des Unionsrechts unterscheiden. Nach dem Effektivitätsprinzip wiederum darf die Anwendung mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.[90] Beide Prinzipien sind entgegen vereinzelt vertretener Ansicht sowohl beim unmittelbaren als auch beim mittelbaren indirekten Vollzug zu beachten, da das Interesse der Union an der einheitlichen und wirksamen Anwendung ihres Rechts in beiden Varianten gleich stark ausgeprägt ist.[91]
bb) Bereichskodifikation
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Flankierende Regelungen
Weisen die Verträge der Union die Kompetenz zur Regelung bestimmter Materien des besonderen Verwaltungsrechts (z. B. Art. 114 oder 192 AEUV) zu, so kann der Sekundärrechtsgeber, gestützt auf diese Sachkompetenzen, grundsätzlich auch flankierende Regelungen zur administrativen Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten erlassen (implied powers bzw. Annexkompetenz).[92] Ein genereller Rückgriff auf diese sehr weiten Rechtsgrundlagen zur Angleichung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts ist jedoch in der Rechtsprechung des EuGH explizit ausgeschlossen worden.[93] Als Beispiel für flankierende sekundärrechtliche Regelungen im obigen Sinne kann das Internetsicherheitsrecht (Cybersecurity) dienen, das den Mitgliedstaaten an verschiedenen Stellen Vorgaben hinsichtlich der Organisation ihrer Verwaltung macht.[94] So sind die Mitgliedstaaten infolge der auf die Binnenmarktkompetenz des Art. 114 AEUV gestützten NIS-Richtlinie[95] verpflichtet, eine für die Sicherheit von Netz- und Informationssystemen zuständige nationale zentrale Anlaufstelle (Art. 8 Abs. 3 NIS-Richtlinie) und Computer-Notfallteams (Art. 9 Abs. 1 NIS-Richtlinie) einzurichten, die in ein Netzwerk mit den Notfallteams aus den anderen Mitgliedstaaten eingebunden werden (Art. 12 Abs. 1 NIS-Richtlinie).[96]
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Rahmenregelungen und Mindeststandards
Der Erlass flankierender sekundärrechtlicher Regelungen zur administrativen Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten unterliegt den allgemeinen Regeln der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. In diesem Zusammenhang kommt dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten abermals herausragende Bedeutung zu. Konkret bedeutet dies, dass die Union den Mitgliedstaaten zwar allgemeine Vorgaben hinsichtlich ihrer Verwaltungsorganisation machen kann, den Spielraum der Mitgliedstaaten in inhaltlicher Sicht, d. h. was Regelungsbreite und -tiefe[97] anbelangt, aber so wenig wie möglich einzuschränken und sich, soweit möglich, auf Rahmenregelungen und Mindeststandards zu beschränken hat. In der NIS-Richtlinie kommen diese Anforderungen etwa dadurch zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten die Funktion einer nationalen zentralen Anlaufstelle auch einer bereits bestehenden Behörde zuweisen können (Art. 8 Abs. 3 NIS-Richtlinie) und die einzurichtenden Computer-Notfallteams mindestens die im Anhang der Richtlinie aufgezählten Dienste abdecken müssen, jedoch auch darüber hinausgehen können (Art. 9 Abs. 1 NIS-Richtlinie). Zudem haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die Notfallteams in dem bereits erwähnten Netzwerk mit den Notfallteams aus den anderen Mitgliedstaaten „wirksam, effizient und sicher zusammenarbeiten“ (Art. 9 Abs. 2 UAbs. 2 NIS-Richtlinie); die Regelung der Einzelheiten dieser Zusammenarbeit ist indes den Mitgliedstaaten überlassen. Ob diese mitgliedstaatliche Kompetenzen schonende Regulierung mit Blick auf die Bedeutung der Aufgabe in allen Bereichen effektiv ist, muss bezweifelt werden. Hinzu kommt, dass in vielen Bereichen, wie etwa der Cybersicherheit im Finanzsektor, diese vertikalen Kooperations- und Verbundstrukturen durch horizontale Kooperationsstrukturen mit den relevanten privaten Akteuren zu ergänzen sind.[98]
III. Kompetenzausübung auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts
im Rahmen des Vollzugs
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Regel-Ausnahme-Verhältnis
Art. 4 Abs. 1 EUV formuliert, dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten gemäß Art. 5 EUV bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Speziell für den hier relevanten Fall der Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union konkretisieren Art. 291 Abs. 1 und 2 AEUV[99] die Gedanken der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit dahingehend, dass sie ein Regel-Ausnahme-Verhältnis von indirektem und direktem Vollzug begründen.[100] Art. 291 Abs. 2 AEUV formuliert, dass u. a. der Kommission Durchführungsbefugnisse übertragen werden können, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union bedarf. Ob ein solcher Bedarf besteht, ist anhand der allgemeinen zum Subsidiaritätsprinzip entwickelten Grundsätze zu ermitteln.
1. Begründung von Verwaltungskompetenzen der EU-Eigenverwaltung
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Sachkompetenzen
Wie bereits eingangs erwähnt, können Verwaltungskompetenzen der EU-Eigenverwaltung direkt im Primärrecht vorgesehen sein. Insoweit ist die Verwaltung der europäischen Strukturfonds, die auf Basis der Kompetenznorm des Art. 177 AEUV in einem fein ausdifferenzierten