2. Kooperative Rechtsdurchsetzung mithilfe europäischer Agenturen
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Grenzen
Bereits einleitend wurde angemerkt, dass in jüngerer Zeit eine Ausweitung und Ausdifferenzierung der EU-Eigenverwaltung zu beobachten ist, die sich vor allem in der vermehrten Gründung europäischer Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten äußert.[103] Inwieweit der Europäischen Union bei der Gründung von Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten Grenzen gesetzt sind, wird klassischerweise unter dem Stichwort des institutionellen Gleichgewichts unter Rückgriff auf die sog. Meroni-Grundsätze diskutiert, die der EuGH bereits in den fünfziger Jahren entwickelt hatte und die auch heute noch, zumindest im Grundsatz und ergänzt durch die sog. ESMA-Rechtsprechung, Geltung beanspruchen.[104]
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Direkter Vollzug als Ausnahme
Unter dem Stichwort der Kompetenzausübung stellt sich dagegen die Frage, inwieweit die Gründung europäischer Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten durch die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit begrenzt wird. Insofern gilt im Grundsatz, dass der direkte Vollzug des Unionsrechts (in diesem Fall durch Agenturen) die Ausnahme bildet[105] und insofern die Mitgliedstaaten zuständig bleiben.
a) Ein Modell kooperativer Rechtsdurchsetzung
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Vollzugsdefizite und neue Arbeitsmethode
Mit Blick auf mitgliedstaatliche Vollzugsdefizite einerseits und eine verbesserte Funktionsfähigkeit der EU in zentralen Politikfeldern andererseits wird zukünftig verstärkt darüber nachzudenken sein, ob der Kommission oder einer Agentur unter Aufsicht der Kommission unter bestimmten Voraussetzungen Durchführungs- oder Vollzugszuständigkeiten zugewiesen werden sollen. Dabei geht es nicht etwa um eine undifferenzierte Zentralisierung von Verwaltungsaufgaben, sondern vielmehr um die Etablierung einer neuen Arbeitsmethode der EU, die sich auf Prioritäten konzentriert und hier „stark“ ist, sich aber dafür in anderen Bereichen zurückzieht oder zumindest – dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend – auf eine rahmenartige und auf Mindeststandards basierende Steuerung beschränkt.[106] Diese neue Arbeitsmethode korrespondiert mit Szenario 4 des von der Kommission im Frühjahr 2017 vorgelegten Weißbuchs zur Zukunft der EU.[107] Danach konzentriert sich die EU auf einige zentrale Politikfelder und erhält hier mehr Kompetenzen, vor allem auch im Vollzugsbereich. Dafür werden Zuständigkeiten in anderen Politikfeldern reduziert oder ganz aufgegeben.[108] Den Gedanken der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit wird auf diese Weise Rechnung getragen.
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Modell kooperativer Rechtsdurchsetzung
Im Rahmen der so skizzierten neuen Arbeitsmethode könnte im Bereich europäischer Prioritäten ein Modell kooperativer Rechtsdurchsetzung etabliert werden.[109] Ziel ist es, die EU in den prioritären Politikfeldern handlungs- und funktionsfähig zu erhalten.[110] Dies ist insbesondere dort von großer Bedeutung, wo die Mitgliedstaaten entweder aufgrund von defizitären Governance-Strukturen[111] nicht in der Lage oder aus politischen Gründen nicht willens sind, das Unionsrecht um- oder durchzusetzen. Denn Vollzugsdefizite in den Mitgliedstaaten sind dafür verantwortlich, dass das europäische „law in the books“ nicht zum „law in practice“ wird und solchermaßen in die EU gesetztes Vertrauen der Bürger enttäuscht (Negativkriterium).[112]
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Arbeitsteiliges Modell
Im Hinblick auf die so skizzierte kooperative Rechtsdurchsetzung könnte das arbeitsteilige Modell der Wettbewerbspolitik wegweisend sein.[113] Im Bereich der Fusionskontrolle teilt die Fusionskontrollverordnung[114] die Zuständigkeit der Kontrolle zwischen Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden auf, wobei die Möglichkeit einer Verweisung bei getrennter Rechtsdurchsetzung besteht. Im Kartellrecht schafft die Verordnung 1/2003[115] ein Modell gemeinsamer Rechtsdurchsetzung. Während die Vorgängerverordnung 17/62[116] noch einen zentralisierten Ansatz mit alleiniger Zuständigkeit der Kommission verfolgte, erfolgt die Zusammenarbeit mit den nationalen Wettbewerbsbehörden nunmehr durch das Netzwerk der europäischen Wettbewerbsbehörden, das einen Austausch von Informationen und Expertise ermöglicht. Dabei zeigt sich, dass 85% der Fälle dezentral, auf nationaler Ebene, bearbeitet werden können.
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Kapazitäten und Kontrollmechanismen aufbauen
Diese Art von kooperativer Rechtsdurchsetzung setzt einen klaren Rechtsrahmen sowie für die Zusammenarbeit institutionell, personell und technisch gut ausgestattete nationale Behörden voraus, die in der Lage sind, das Unionsrecht effektiv anzuwenden und durchzusetzen. Aufbauend auf den vertraglichen Leitprinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit einerseits sowie der Solidarität andererseits würde dies bedeuten, dass die EU, dort wo es Defizite gibt, entsprechende Kapazitäten aufbauen hilft (vgl. auch den bereits erwähnten Art. 197 Abs. 2 S. 4 AEUV). Im Hinblick hierauf sollte die EU finanzielle Anreize setzen und Formen der Zusammenarbeit entwickeln, die vom Informationsaustausch bis hin zu einer fachlichen, personellen und technischen Unterstützung durch die europäische Ebene – etwa nach dem Vorbild des Structural Reform Support Service (SRSS)[117], der inzwischen zu einer eigenständigen Generaldirektion der Kommission aufgewertet wurde – reichen. Ergänzend müssen Kontrollmechanismen vorhanden sein, die europäische Handlungsmöglichkeiten im Sinne einer Auffangverantwortung für den Fall vorsehen, dass nationale Behörden nicht fähig oder willens sind, die gemeinsamen Ziele und Vorgaben umzusetzen bzw. anzuwenden mit der Folge, dass das europäische Gemeinwohl (ein europäisches öffentliches Gut[118]) gefährdet wird.[119] Wenn