1. Verwaltungstypen, Vollzugsformen und anwendbares Verwaltungsrecht
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Differenzierungen
Im europäischen Verwaltungsverbund ist organisatorisch zwischen der EU-Eigenverwaltung und der mitgliedstaatlichen Verwaltung zu unterscheiden.[47] Auf Ebene des anwendbaren Verwaltungsrechts ist, soweit der Vollzug europäischen Verwaltungsrechts in Rede steht, überdies zwischen dem direkten Vollzug, dem indirekten Vollzug sowie verschiedenen Kooperations- und Verbundstrukturen zu differenzieren.
a) Direkter Vollzug
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Eigenverwaltungsrecht der EU
Beim direkten Vollzug sind die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU selbst für die Anwendung des europäischen Verwaltungsrechts verantwortlich. Verwaltungskompetenzen der EU-Eigenverwaltung können direkt im Primärrecht vorgesehen sein oder der EU durch Sekundärrechtsakte übertragen werden. Primärrechtlich vorgegeben ist eine EU-Eigenverwaltung im EU-Wettbewerbsrecht[48], bei der Verwaltung der Strukturfonds[49] sowie im Rahmen der Unionsbedienstetenverwaltung. Angeführt wird die EU-Eigenverwaltung von der Europäischen Kommission (vgl. Art. 17 Abs. 1 S. 5 EUV), hinzu treten jedoch vermehrt sekundärrechtlich errichtete sog. Regulierungs- und Exekutivagenturen (Stichwort: Pluralisierung der EU-Eigenverwaltung).[50] Während erstere selbständig mit der permanenten Wahrnehmung bestimmter Sachaufgaben betraut sind, führen letztere v. a. punktuelle Unterstützungs- und Managementaufgaben durch[51] und sind direkt der Kommission zugeordnet. Das auf die EU-Verwaltung anwendbare und von dieser angewandte Verwaltungsrecht wird auch als Eigenverwaltungsrecht der EU bezeichnet.[52] Begrifflich und inhaltlich lässt sich zwischen dem unionsinternen und dem unionsexternen Eigenverwaltungsrecht unterscheiden.
aa) Unionsinternes Eigenverwaltungsrecht
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Verfahrens- und Organisationsrecht
Der Begriff des unionsinternen Eigenverwaltungsrechts beschreibt die Gesamtheit des internen Verfahrens- und Organisationsrechts der EU-Eigenverwaltung. Es setzt sich zusammen aus den geschriebenen und ungeschriebenen Regelungen des Primär- und Sekundärrechts. Seit dem Vertrag von Lissabon ist in Art. 298 Abs. 2 AEUV eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung an die EU zur Schaffung der entsprechenden Vorschriften niedergelegt.
bb) Unionsexternes Eigenverwaltungsrecht
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Handlungsrecht
Das unionsexterne Eigenverwaltungsrecht (auch: Handlungsrecht) besteht aus der Gesamtheit der europäischen Vorschriften, die im Außenverhältnis zwischen EU-Verwaltung und Bürgern zur Anwendung gelangen.
b) Indirekter Vollzug
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Unionsverwaltungsrecht
Beim indirekten Vollzug wird europäisches Verwaltungsrecht dezentral durch die mitgliedstaatliche Verwaltung vollzogen. Dabei sind der unmittelbare indirekte Vollzug und der mittelbare indirekte Vollzug zu unterscheiden.[53] Die Gesamtheit des kraft Unionsrechts für die mitgliedstaatliche Verwaltung verbindlichen und im indirekten Vollzug anzuwendenden Verwaltungsrechts wird auch als Unionsverwaltungsrecht bezeichnet.[54]
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Unmittelbarer und mittelbarer indirekter Vollzug
Beim unmittelbaren indirekten Vollzug werden unmittelbar anwendbare europäische Rechtsakte, d. h. Verordnungen und Beschlüsse, durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen dem Einzelnen gegenüber angewendet. Die mitgliedstaatliche Verwaltung wird insofern als Unterbau der Union instrumentalisiert (sog. Grundsatz der vertikalen Funktionenteilung).[55] Der Begriff des mittelbaren indirekten Vollzugs beschreibt dagegen den Fall, dass mitgliedstaatliche Behörden europäisches Recht vermittelt über mitgliedstaatliche Legislativakte (Umsetzungsrecht)[56] vollziehen. Die Ausgestaltung der entsprechenden Verwaltungsverfahren sowie die mitgliedstaatliche Verwaltungsorganisation richten sich grundsätzlich nach mitgliedstaatlichem Recht, wobei die Grundsätze der Effektivität und Äquivalenz zu beachten sind (sog. Milchkontorgrundsätze[57]).
2. Kooperations- und Verbundregime
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Beispiel Bankenaufsicht
Darüber hinaus existieren im europäischen Verwaltungsverbund zahlreiche Kooperations- und Verbundregime (auch: gemischter Vollzug).[58] Als Beispiel hierfür ist die Bankenaufsicht zu nennen. Als zentrale Aufsichtsbehörde verfügt die Europäische Zentralbank (EZB) im Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) über verschiedene Möglichkeiten der Beeinflussung nationaler Verwaltungstätigkeit. So kann sie die nationalen Aufsichtsbehörden beispielsweise durch Anweisung auffordern, gemäß und im Einklang mit ihrem jeweiligen nationalen Recht von ihren Befugnissen in den Fällen Gebrauch zu machen, in denen der EZB die entsprechenden Befugnisse nicht übertragen sind (Art. 9 Abs. 1 UAbs. 3 SSM-VO).[59] Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) wiederum verfügt unter engen Voraussetzungen über das Recht, zur Durchsetzung des Unionsrechts im Einzelfall unmittelbar an Finanzinstitute gerichtete Beschlüsse zu erlassen, für die ansonsten die entsprechenden nationalen Stellen zuständig wären (Selbsteintrittsrecht, Art. 18 Abs. 4 EBA-VO).[60] Über ähnlich gelagerte Befugnisse verfügen die ESMA und die EIOPA. Als weitere Beispiele für Kooperations- und Verbundregime im europäischen Verwaltungsraum können die schon lange etablierte „Mischverwaltung“ der europäischen Strukturfonds[61], aber auch die sich dynamisch entwickelnde Verwaltungszusammenarbeit in den Sektoren Energie und Telekommunikation[62] genannt werden. Neue Verbundregime deuten sich im Bereich der Cybersicherheit an, wo z. B. im Bereich des Finanzsektors, einem vulnerablen Transmissionsriemen zwischen Wirtschafts- und Währungsunion einerseits und Binnenmarkt, Banken- und Kapitalmarktunion andererseits, der Aufbau kooperativer Verwaltungsstrukturen trotz erster Schritte noch zu leisten sein wird.[63]
II. Kompetenzausübung auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts im Rahmen
der Rechtsetzung
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Rechtsetzende Aktivitäten
Vor dem so skizzierten Hintergrund sollen nunmehr zunächst die Grenzen, die sich für die Kompetenzausübung aus dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für rechtsetzende Aktivitäten der EU auf dem Gebiet des besonderen und allgemeinen Verwaltungsrechts ergeben, dargestellt werden. Da sich eine Erörterung dieser Grundsätze ohne einen Überblick über die Zuständigkeiten, die der EU nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) auf den genannten Gebieten zugewiesen sind,[64] nicht sinnvoll anstellen lässt, wird den einzelnen Gliederungsabschnitten jeweils ein entsprechender Abschnitt vorangestellt.[65]
a) Kompetenzverteilung (Art. 5 Abs. 2 EUV)
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Rechtsetzungszuständigkeiten
Auf dem Gebiet des besonderen Verwaltungsrechts verfügt die EU über zahlreiche ausschließliche und geteilte Rechtsetzungszuständigkeiten. Als Beispiele seien das Wettbewerbs-, Beihilfe- und Zollrecht (ausschließliche Zuständigkeit) sowie das Umwelt-, Internetsicherheits- und Bankenaufsichtsrecht genannt (geteilte Zuständigkeit).
b) Kompetenzausübung (Art. 5 Abs. 3, 4 EUV)