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Kompetenz als Sammelbegriff
Als Arbeitsdefinition lässt sich festhalten,[13] dass – in einem weiten Verständnis – Kompetenzen Hoheitsrechte bezeichnen,[14] die Rechtsträgern zugeordnet und die beschränkt sind. So verstanden umfasst Kompetenz als Sammelbegriff Zuständigkeit,[15] Aufgabe, Befugnis, Recht oder Ermächtigung – kurz: jede Rechtsmacht zur Herbeiführung rechtlich erheblicher Entscheidungen.
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Beschränkte Rechtsmacht
Neben dem mit jedem Kompetenzverständnis verbundenen Kriterium der Zurechenbarkeit eines bestimmten Kompetenzinhaltes zu einem Kompetenzsubjekt liegt einem solchen Kompetenzbegriff vor allem die Annahme einer Beschränktheit der Rechtsmacht zugrunde. Im Absolutismus oder im totalen Staat ist für die Frage nach der Kompetenz letztlich kein Raum. Demgegenüber ist die Beschränktheit von Rechtsmacht das Kennzeichen der verfassten Hoheitsgewalt in den westlichen Demokratien.
II. Positive Kompetenzbestimmungen
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Definition positive Kompetenzbestimmungen
Bei der Frage nach der rechtlichen Begrenztheit von Hoheitsgewalt lässt sich zwischen positiven und negativen Kompetenzbestimmungen unterscheiden. Positive Kompetenzbestimmungen sind der Normalfall der Kompetenzzuweisung. Regelmäßig knüpfen solche Bestimmungen die Rechtsfolge der Kompetenz an die Erfüllung bestimmter Tatbestandsmerkmale. Wenn beispielsweise das Kompetenztatbestandsmerkmal „Gesetzgebung im Bereich der Staatsangehörigkeit im Bunde“ erfüllt ist, weil eine zu regelnde Sachfrage sich mit diesem Kompetenzthema deckt, ergibt sich als Rechtsfolge eine Bundeskompetenz zur Regelung dieser Sachfrage (vgl. Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG). Wenn eine Sachfrage sich unter das Tatbestandsmerkmal „Auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen“ subsumieren lässt, besteht eine Rechtsetzungskompetenz für das Europäische Parlament und den Rat gemäß Art. 48 AEUV.
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Finale Kompetenzbe stimmungen
Hier zeigt sich bereits ein typischer Zug der Unionskompetenzen, die regelmäßig über Sachmaterien hinaus an Zielsetzungen orientiert sind.[16] Unabhängig davon, ob solche finalen Kompetenzbestimmungen im Vergleich zu sachbereichsorientierten Kompetenzbestimmungen bereits Politikentscheidungen und Gestaltungsaufträge enthalten,[17] knüpfen auch diese in der Grundstruktur die Rechtsfolge der Kompetenz an die Erfüllung eines Kompetenztatbestandes.
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Differenzierte Kompetenzrechtsfolge
Die Kompetenzrechtsfolge kann dabei im Einzelnen durchaus differenziert gefasst sein. Sie kann beispielsweise allgemein wie bei der früheren Rahmengesetzgebung des Bundes[18] von vornherein nur eingeschränkt zugesprochen werden, oder aber in der konkreten Kompetenzrechtsfolge inhaltlich determiniert werden, etwa im genannten Beispiel des Art. 48 AEUV, wo es im Einzelnen heißt:
„[Das Europäische Parlament und der Rat beschließen [...] die [...] notwendigen Maßnahmen]; zu diesem Zweck führen sie insbesondere ein System ein, das zu- und abwandernden Arbeitnehmern und Selbstständigen sowie deren anspruchsberechtigten Angehörigen Folgendes sichert: a) die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen; b) die Zahlung der Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen“.
Damit wird die Rechtsfolge – die Regelungskompetenz der EU – wie folgt eingeschränkt bzw. („insbesondere“) determiniert: 1. die Kompetenz muss ausgeübt werden, um ein System zu errichten, welches aus- und einwanderungsberechtigte Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Angehörige betrifft; 2. für diese muss ein Regime der Zusammenrechnung von Leistungszeiten eingerichtet werden und 3. ein Regime für die Zahlung von Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen, muss vorgesehen werden.
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Kompetenzkataloge
Vielfach werden gerade in föderalen Ordnungen solche positiven Kompetenzen in Kompetenzkatalogen zusammengefasst, wie etwa in Deutschland in Art. 72 ff. GG, in Österreich in Art. 10 ff. der Bundesverfassung, in den USA in Art. I Sec. 8 der US-Verfassung von 1787 oder in Kanada in Art. 91 ff. des Constitution Act 1867. Solche Kompetenzlisten oder -kataloge für positive Kompetenzbestimmungen erleichtern zwar den Überblick über Kompetenzbestände, führen aber zwangsläufig im Vergleich zu ausführlichen Einzelbestimmungen, wie sie sich im Europarecht finden, tendenziell zu Vergröberungen oder Vereinfachungen, da nicht mehr für jeden Sachbereich bzw. jede Zielbestimmung – also für jeden Kompetenztatbestand – eine derart differenzierte Kompetenzrechtsfolge angeordnet werden kann, wie sie im genannten Beispiel des Art. 48 AEUV deutlich wird.
III. Negative Kompetenzbestimmungen
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Definition negative Kompetenzbestimmungen
Negative Kompetenznormen sind ebenfalls Techniken der Kompetenzverteilung, weil auch sie der öffentlichen Gewalt Schranken setzen und Rechtsmacht determinieren. Dies erfolgt nicht nach der Formel „Wenn (x = Sachgebiet), dann (y = Kompetenz)“, mit der sich positive Kompetenzbestimmungen beschreiben lassen und wo die Zurechnung in den Vordergrund gestellt wird. Stattdessen lässt sich die Formel beschreiben mit „Wenn (x), dann (y = KEINE Kompetenz)“, was die Grenze von Rechtsmacht betont. Naheliegend ist zunächst, solche negativen Kompetenzbestimmungen auch an Sachbereichen auszurichten, für die Variable x im Tatbestand der Kompetenznorm also wieder eine Sachbereichsbeschreibung einzusetzen (siehe oben). Ein Beispiel wäre eine Kompetenzbestimmung in einer Bundesverfassung „Wenn (x = Kindergartenwesen), dann (y = KEINE Bundeskompetenz)“. Regelmäßig ergeben sich solche negativen Kompetenzbestimmungen allerdings nur mittelbar, wenn es etwa in der österreichischen Bundesverfassung heißt, dass die Länder für das „Kindergartenwesen“ zuständig sind (Art. 14 Abs. 4 lit. b B-VG).
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Kompetenzausschluss durch Auffangkompetenz
Im Sinne negativer Kompetenzbestimmungen kann die Variable x aber auch durch andere Größen ausgefüllt werden. So wird in gestuften Systemen öffentlicher Gewalt, föderalen oder quasi-föderalen Ordnungen, in der Kompetenzfestlegung der übergreifenden Ebene in aller Regel für eine der Ebenen eine Auffangkompetenz vorgesehen sein. Eine solche Auffangkompetenz hat für die andere Ebene die Wirkung einer negativen Kompetenzbestimmung. Wenn es beispielsweise in Art. 30 GG heißt, dass die Ausübung staatlicher Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder sie zulässt (vgl. auch Art. 70 GG), so kann man dies als negative Kompetenznorm für die Bundesebene lesen: ist das Tatbestandsmerkmal „keine Regelung im GG“ (x) erfüllt, dann liegt keine Kompetenz des Bundes vor (y). In diesem Sinne enthält auch das die europäische Kompetenzordnung leitende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung[19], wonach die Union nur im Rahmen der ihr in den Verträgen zugewiesenen Kompetenzen und ihr gesetzten Ziele tätig wird, eine negative Kompetenzbestimmung.
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Keine Kompetenz für rechtswidrige Akte
Wenn man dem Kompetenzbegriff mehr als lediglich formalen Charakter zumisst,[20] dann lassen sich negative Kompetenzbestimmungen nicht nur durch ausgeschlossene Sachbereiche formulieren. Letztlich folgt aus dem Ausgangspunkt einer grundsätzlich begrenzten öffentlichen Gewalt, dass sämtliche der öffentlichen Gewalt gesetzte Grenzen eben auch kompetenzbeschränkend wirken. Am deutlichsten wird dies in der Konzeption von den Grundrechten als negativen Kompetenznormen sichtbar.[21] Die Freiheitssphäre des