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Die „Ergänzung der Rechtsfolgenseite des Mordparagraphen“ verdiene gegenüber anderen Lösungen den Vorzug, weil sie den Tatbestand der Heimtücke nicht weiter einenge und daher Bestimmtheit und Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung nicht in Frage stelle. Die tatbestandliche Abgrenzung von Mord und Totschlag werde somit allein von gesetzlichen Merkmalen bestimmt. Mit „Ergänzung der Rechtsfolgenseite“ meint der Große Senat die Anwendung des Strafrahmens des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dass der Zugang zu diesem Strafrahmen durch generalklauselartige Kriterien eröffnet werde, sei unbedenklich. Das werde durch § 212 Abs. 2 und § 213 Alt. 2 StGB bestätigt.[268] Die Legitimation zur Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB ankere in den gesetzlichen Milderungsvorschriften, die auf § 49 Abs. 1 StGB verweisen. „In Fällen, in denen auf Grund besonderer gesetzlicher Milderungsgründe Strafmilderung vorgeschrieben oder zugelassen ist, tritt an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren (§ 49 Abs. 1 Nr. 1, § 38 Abs. 2 StGB). Vom Gesetz nicht in die Regelung des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB einbezogenen außergewöhnlichen Umständen, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig erscheint, kann keine geringere Wirkung als den gesetzlichen Milderungsgründen beigemessen werden, die sich (wie etwa in Fällen des § 13 Abs. 2, des § 17 S. 2 oder des § 21 StGB) aus der Berücksichtigung bestimmter schuldmindernder Umstände ergeben. Sie führen infolgedessen ebenfalls zur Anwendung des Strafrahmens des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB, und zwar zwingend, weil das verfassungsrechtliche Übermaßverbot keine Ausnahmen kennt. Dieser Strafrahmen gestattet es, dem Bewertungsgegensatz, der sich daraus ergibt, dass einerseits das Mordmerkmal der Heimtücke vorliegt, andererseits schuldmindernde Umstände von Gewicht gegeben sind, in jeder Ausprägung, die er im Einzelfall erfährt, Rechnung zu tragen.“[269]
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Methodologisch handelt es sich bei der Inaugurierung der Rechtsfolgenlösung um eine nach Ansicht des Großen Senats zulässige richterliche Rechtsfortbildung: „Auf Grund der Wertvorstellungen der Verfassung und des sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hat das Bundesverfassungsgericht eine Regelungslücke festgestellt, die zwar nicht als ursprüngliche ‚planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes‘ angesehen werden kann, die aber einer solchen Unvollständigkeit auf Grund eines Wandels der Rechtsordnung gleichzuachten ist. Die Behebung dieser Lücke hat das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgerichtshof überlassen. Dem Großen Senat für Strafsachen ist es nicht verwehrt, sie dadurch zu schließen, dass er in Heimtückefällen auf der Rechtsfolgenseite des Mordes (§ 211 Abs. 1 StGB) an die Stelle der lebenslangen Freiheitsstrafe den Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB treten lässt, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern.“[270]
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Die Entscheidung des Großen Senats löste heftige Reaktionen aus.[271] Der Befreiungsschlag aus der starren Sanktionsregelung des § 211 Abs. 1 StGB wurde zwar als ein Schritt in die richtige Richtung begrüßt.[272] Kritisiert wurde aber die Anmaßung legislativer Kompetenz durch die Judikative.[273] Obwohl diese Lösung auch Befürworter gewonnen hat,[274] ist sie eine auf Dauer inakzeptable Notlösung.[275] Die Gesetzgebung ist aufgerufen, die vielversprechenden Ansätze aus der Reformdebatte der Jahre 2014 bis 2016 zum Abschluss zu bringen.[276]
m) Mordähnlicher besonders schwerer Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 2 StGB)
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Die aktuelle Fassung des § 211 StGB verstößt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht gegen das Grundgesetz. Seit diesem Urteil sind vier Jahrzehnte vergangen und die „Rechtsfolgenlösung“ ist nicht das einzige Indiz dafür, dass das Bundesverfassungsgericht sich geirrt und die Fähigkeit der Rechtsprechung zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots bei der Behandlung vorsätzlicher Tötungen überschätzt hat. Aber die begründeten Bedenken, denen § 211 StGB ausgesetzt ist, sind Petitessen verglichen mit der krassen Abweichung des § 212 Abs. 2 StGB von der Verfassung.[277] Der Rechtsprechung zu erlauben, einen Totschlag mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden, weil er ein „besonders schwerer Fall“ ist und sich jeglicher gesetzlicher Konkretisierung der „besonderen Schwere“ zu enthalten, ist schwerstes gesetzgeberisches Versagen.[278] Die mindeste Schadensbegrenzung, die von der Gesetzgebung zu verlangen ist, wäre die Flexibilisierung der Rechtsfolgenseite: „… ist auf lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren zu erkennen“. Der ganz schwere Mangel – die „Unbenanntheit“ des besonders schweren Falles – könnte zwar durch einen Regelbeispielskatalog gemildert werden. Jedoch käme dann sogleich die berechtigte Frage auf, mit welcher sachlichen Berechtigung zwischen Merkmalen, die zwingend zur lebenslangen Freiheitsstrafe führen (§ 211 Abs. 2 StGB), und Merkmalen, die nur eine durch Gesamtwürdigung entkräftbare Indizwirkung haben, unterschieden wird. Die Literatur verschließt die Augen, weil das Bundesverfassungsgericht der Norm sein Attest gegeben hat: „Die Vorschrift ist mit dem Grundgesetz vereinbar“.[279] Wer diesen Standpunkt einnimmt, sollte sich der Aufgabe widmen, der Rechtsprechung das zu geben, was der Gesetzgeber ihr nicht gegeben hat, nämlich einen Katalog subsumtionsfähiger Beispiele der besonderen Schwere.[280]
a) Geschichte
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Die Strafvorschrift § 221 StGB ist seit 1871 Bestandteil des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs.[281] Die einschneidendste Umgestaltung erfuhr die Norm durch das 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998. Im Grundtatbestand § 221 Abs. 1 StGB wurde der einstmals geschlossene Kreis geschützter potentieller Opfer („eine wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hilflose Person“) geöffnet. Die zweite Handlungsalternative „in hilfloser Lage verlässt“ wurde ersetzt durch „in einer hilflosen Lage im Stich lässt“. Dadurch beendete der Gesetzgeber einen jahrzehntelangen Streit um die Auslegung des Merkmals „verlässt“.[282] Dazu hatte der 1. Strafsenat des BGH im Jahr 1991 entschieden, dass „Verlassen in hilfloser Lage“ eine „örtliche Änderung der Beziehung zwischen dem Obhutspflichtigen und der hilflosen Person“ voraussetze[283], nachdem das Landgericht Ingolstadt als Vorinstanz sich der im Schrifttum vertretenen Ansicht angeschlossen hatte, wonach es für ein Verlassen im Sinne des § 221 Abs. 1 StGB nicht eines räumlichen Sich-Entfernens bedürfe, sondern ein sonstiges Im-Stich-lassen der hilflosen Person genüge.[284] Erheblich