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In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat die Entscheidung zum „Radfahrer-Fall“ Berühmtheit erlangt wegen ihrer Ausführungen zum Pflichtwidrigkeitszusammenhang, den der Strafsenat damals noch nicht so bezeichnete, sondern als einen besonderen Aspekt der Kausalität behandelte: „Natürlich war die Fahrweise des Angeklagten eine Bedingung im mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinn für den Tod des Radfahrers. Damit ist aber nicht gesagt, daß die in seinem Verhalten steckende Verkehrswidrigkeit, das zu knappe Überholen, für die Herbeiführung des Tötungstatbestandes gemäß § 222 StGB im strafrechtlichen Sinne ursächlich war. Das vom Schuldgrundsatz beherrschte Strafrecht begnügt sich nicht mit einer rein naturwissenschaftlichen Verknüpfung bestimmter Ereignisse, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ursache und Erfolg zu beantworten. Für eine das menschliche Verhalten wertende Betrachtungsweise ist vielmehr wesentlich, ob die Bedingung nach rechtlichen Bewertungsmaßstäben für den Erfolg bedeutsam war. Dafür ist entscheidend, wie das Geschehen abgelaufen wäre, wenn der Täter sich rechtlich einwandfrei verhalten hätte. Wäre auch dann der gleiche Erfolg eingetreten oder läßt sich das auf Grund von erheblichen Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen, so ist die vom Angeklagten gesetzte Bedingung für die Würdigung des Erfolges ohne strafrechtliche Bedeutung. In diesem Fall darf der ursächliche Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg nicht bejaht werden.“[323] Die Kategorisierung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs als Unterfall der Kausalität hat die Rechtsprechung auch in der Folgezeit aufrechterhalten.[324] In der Literatur wird hingegen zwischen Kausalität und objektiver Zurechnung des Erfolges unterschieden.
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Das Erfordernis des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs stellt die Strafrechtsanwendung vor die Herausforderung, Art und Umfang der zurechnungserheblichen Pflichtwidrigkeit exakt zu bestimmen. Dies ist in dem Lebensbereich, wo fahrlässige Tötung trotz Rückgangs tödlicher Unfälle immer noch große praktische Bedeutung hat – dem Straßenverkehr – nur scheinbar eine leichte Aufgabe. Zwar lässt sich am Maßstab der Straßenverkehrsordnung in vielen Fällen mit geringem Aufwand feststellen, dass der Verkehrsteilnehmer gegen eine Sorgfaltspflicht verstoßen hat. Auch ist meistens aufklärbar, dass ohne diese Sorgfaltspflichtverletzung der Geschehensverlauf ein anderer gewesen wäre und der eingetretene Todeserfolg vermieden worden wäre. Aber entscheidend ist immer, dass die festgestellte Sorgfaltspflichtverletzung im Kontext des Straftatbestandes Fahrlässige Tötung überhaupt berücksichtigungsfähig ist. Das hängt von dem Schutzzweck der Sorgfaltsnorm ab, die der Täter übertreten hat. Dieser muss nicht nur die Vermeidung von Todesfällen umfassen, sondern auch die Vermeidung einer bestimmten Klasse tödlicher Geschehensverläufe, zu der der konkrete todesursächliche Verlauf gehört. Da bei Vorsatzdelikten eine generelle Beschränkung relevanter Verhaltenspflichten durch die Versuchsgrenze gewährleistet wird und Verhaltensfehler im Vorbereitungsstadium grundsätzlich keine Strafbarkeit begründen können, ist bei Fahrlässigkeitsdelikten eine ähnliche raum-zeitliche Grenzziehung naheliegend. Die Rechtsprechung setzt diese Idee ohne explizite Bezugnahme auf § 22 StGB um, indem sie allein Sorgfaltspflichtsverletzungen nach „Eintritt der kritischen Verkehrslage“ Beachtlichkeit zuschreibt.[325] „Diese Prüfung scheidet Umstände aus der rechtlichen Bewertung aus, die im naturwissenschaftlichen Sinne zwar auch Bedingungen für den eingetretenen Erfolg sind, die aber für die strafrechtliche Haftung des Täters keine Rolle spielen können. Es kommt danach insbesondere nicht darauf an, ob der Fahrzeugführer irgendwann vor dem Eintritt der kritischen Verkehrslage eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen hatte, welche überhaupt erst dazu beigetragen hat, daß er im Unfallzeitpunkt am Unfallort war.“[326]
2. Todeserfolgsqualifizierte Delikte
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Erfolgsqualifizierte Delikte, bei denen durch eine vorsätzliche lebensgefährliche Tat mindestens fahrlässig – oder: leichtfertig (vgl. §§ 176b, 178, 251 StGB) – ein Todeserfolg verursacht wird, sind spezielle Erscheinungsformen der fahrlässigen Tötung. Die Sorgfaltspflichtwidrigkeit hinsichtlich der Todesverursachung ist in der Regel der vorsätzlichen Verwirklichung des Grundtatbestandes immanent. Eine vorsätzliche lebensgefährdende Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) ist eine fahrlässige Tötungshandlung, die nach § 227 StGB strafbar ist, wenn es zum Eintritt des Todeserfolges kommt. Wäre der Versuch eines Fahrlässigkeitsdelikts mit Strafe bedroht, würde jede vorsätzliche lebensgefährliche Körperverletzung mit einer versuchten fahrlässigen Tötung idealiter konkurrieren, § 52 StGB. Ähnlich verhält es sich z.B. mit der vorsätzlichen Teilnahme an einem lebensgefährlichen illegalen Straßenrennen, durch das der Tod eines anderen Menschen verursacht wird. Schon die vorsätzliche Rennteilnahme ist eine versuchte fahrlässige Tötung, der Todeserfolg begründet sodann Strafbarkeit aus § 315d Abs. 5 StGB. Vereinzelt findet man todeserfolgsqualifizierte Delikte im Nebenstrafrecht, so in § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG und in § 97 Abs. 1 AufenthG. Nicht zur Gattung der erfolgsqualifizierten Delikte gehört die Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB). Der strafbarkeitsbegründende Todeserfolg ist in diesem Tatbestand kein qualifizierendes Tatbestandsmerkmal, sondern eine objektive Strafbarkeitsbedingung.[327] Daher gelten bezüglich des Todeserfolges weder § 15 noch § 18 StGB.
3. Lebensgefährdungsdelikte
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Eigenständig tatbestandlich vertypt ist das Handlungsunrecht der fahrlässigen Tötung auch in Lebensgefährdungstatbeständen. Das trifft z.B. auf § 315b und auf § 315c StGB zu. Wer im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit einen Fußgänger in konkrete Lebensgefahr bringt, begeht außer vollendeter Straßenverkehrsgefährdung gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB auch eine versuchte fahrlässige Tötung, die als solche nach geltendem Strafrecht nicht strafbar ist. Ein abstraktes Lebensgefährdungsdelikt ist die gefährliche Körperverletzung in der Variante § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB.[328] Wie bei den todeserfolgsqualifizierten Delikten kommt der Unterschied zu echten Tötungsdelikten im subjektiven Tatbestand zur Geltung: die Tat muss vorsätzlich begangen worden sein, allerdings ist Vorsatzgegenstand nicht der Todeserfolg, sondern die Gefahr des Todeserfolges. Der Lebensgefährdungsvorsatz ist ein Minus im Verhältnis zum Tötungsvorsatz.
1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 1 Tötungsdelikte › Ausgewählte Literatur
Ausgewählte Literatur
Arzt, Gunther
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