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Hochumstritten ist, ob Mord mit Verdeckungsabsicht als unechtes Unterlassungsdelikt begangen werden kann und von welchen Voraussetzungen das abhängt.[221] Der BGH hatte in einer früheren Entscheidung die Verwirklichung dieses Mordmerkmals in einem Fall verneint, in dem der Verursacher eines Verkehrsunfalls sich vom Unfallort entfernt hatte, um auf diese Weise der Strafverfolgung zu entgehen. Das schwer verletzte Unfallopfer, dem gegenüber der Täter aus Ingerenz eine Garantenstellung hatte, verstarb infolge der schweren Verletzungen. Höchstwahrscheinlich wäre der Verletzte auch gestorben, wenn der Täter sich pflichtgemäß sofort um Rettung bemüht hätte.[222] Der Täter hatte es für möglich gehalten, dass unverzügliche Rettungsmaßnahmen lebenserhaltend gewesen wären. Der BGH interpretierte das Mordmerkmal „Verdeckungsabsicht“ so, dass der Tod des Opfers für den Täter das Mittel zur Verdeckung der anderen Straftat sein müsse. Daran fehle es, wenn es dem Täter zur Vermeidung der Tataufdeckung nicht unbedingt auf den Tod des Opfers ankomme, weil dieses keine ihn belastende Beobachtungen hatte machen können: „Er hat demgemäß den als möglich vorausgesehenen Tod des Verunglückten nicht als Mittel zur Verdeckung des Unfalls eingesetzt, sondern nur als Folge der Flucht in Kauf genommen. Solche pflichtwidrige Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leben ist zwar wie jeder Tötungsvorsatz verwerflich; ihr mangelt aber die Kennzeichnung besonderer Verwerflichkeit, die sich im Sinne des Gesetzes dann ergäbe, wenn sich der Täter gerade durch die Vernichtung des Lebens strafrechtlicher Verantwortung hätte entziehen wollen. Der innere Tatbestand des Mordes ist auch deshalb nicht erfüllt, weil der Angeklagte die Hilfeleistung nicht unterlassen hat, um die fahrlässige Tötung zu verdecken. Der Täter, der sich – wie der Angeklagte – bloß vom Tatorte entfernt, verdeckt dadurch noch nicht die Tat. Der Begriff des Verdeckens hat nämlich einen anderen Inhalt als den des Nichtaufdeckens. Zu ihm gehört, wie die Grundbedeutung des Wortes richtig erkennen lässt, ein Zudecken der Tat, also ein Unkenntlichmachen von Tatspuren oder ein Unschädlichmachen von Menschen, die zur Aufdeckung beitragen könnten. Wer die Pflicht zur Abwendung des tödlichen Erfolges seiner eigenen Straftat nur deshalb verabsäumt, um seine Täterschaft nicht selbst aufzudecken, will somit die Tat nicht verdecken, sondern bloß dem Geschehen seinen Lauf lassen. Sein pflichtwidriges Unterlassen, Hilfe zu leisten und damit sich selbst der Strafverfolgung zu überantworten, erreicht nicht den Unrechtsgehalt der besonderen Verwerflichkeit, der den Begehungsformen des Mordes insgesamt eigen ist.“[223]
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Die Entscheidung ist in der Literatur überwiegend auf Ablehnung gestoßen[224] und auch der BGH selbst ist von ihr später abgerückt. Die Verneinung der Verdeckungsabsicht in diesem Fall ist aber richtig, wenngleich dies vom BGH missverständlich begründet worden ist. Der wahre Grund ist, dass der Straftatverdeckungserfolg nach der Vorstellung des Täters nicht auf einer „Tötung“ (durch Unterlassen) beruht.[225] Es fehlt also der Kausalzusammenhang zwischen dem todesverursachenden Verhalten und dem erstrebten Verdeckungserfolg. Im subjektiven Tatbestand genügt dolus eventualis bezüglich der Tötung. Mit dem Erfordernis des dolus directus 1. Grades hinsichtlich des Verdeckungserfolges ist das nicht unvereinbar. Der Täter kann den Verdeckungserfolg unbedingt erstreben und dennoch den Tod des Opfers nur billigend in Kauf nehmen, wenn dieser Erfolg für ihn nicht als unverzichtbare Bedingung der Straftatverdeckung erscheint.[226]
h) Unterlassen
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Mord ist ein Erfolgsdelikt und kann deshalb ebenso wie Totschlag als unechtes Unterlassungsdelikt begangen werden.[227] Voraussetzung dafür ist eine Garantenstellung und eine Modalitätenäquivalenz im konkreten Einzelfall („Entsprechung“). Hinsichtlich der Garantenstellung ist auf die allgemeinen dogmatischen Erkenntnisse zu § 13 Abs. 1 StGB zurückzugreifen. Das Bedürfnis nach restriktiver Anwendung des § 13 StGB ist bei § 211 StGB wegen dessen extremer Sanktionsregelung besonders stark.[228] Es kommen alle Arten von Beschützergaranten und Überwachergaranten in Betracht. Schaut der Ehemann (Beschützergarant) untätig zu, wie seine Ehefrau infolge eines Unglücks zu Tode kommt, ist neben der Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen auch Strafbarkeit wegen Mordes durch Unterlassen in Erwägung zu ziehen. Lässt der Halter eines „Kampfhundes“ (Überwachergarant) das Tier ein kleines Kind anfallen und zu Tode beißen, anstatt rettend einzugreifen, gilt dasselbe. Wie beim Begehungsdelikt hängt das Ergebnis letztlich von der Erfüllung eines Mordmerkmals ab. An dieser Stelle ist auf die Entsprechungsklausel des § 13 Abs. 1 StGB einzugehen. Es handelt sich dabei um ein noch recht unerforschtes Gebiet. Hinsichtlich jedes einzelnen Mordmerkmals muss geklärt werden, ob es in Form der Tötung durch Unterlassen erfüllt werden kann.
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Mord durch Unterlassen schließt neben Totschlag durch Unterlassen stets auch Aussetzung (§ 221 StGB) mit ein. Die Variante „Im-Stich-lassen“ (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) ist ebenfalls ein Unterlassungsdelikt. Den Unterschied zwischen Mord durch Unterlassen und Aussetzung durch Unterlassen (mit Todesfolge, § 221 Abs. 3 StGB) macht der Tötungsvorsatz aus. Ist dieser vorhanden, tritt Aussetzung (mit Todesfolge) hinter Mord durch Unterlassen zurück. Fehlt er, liegt Mord durch Unterlassen nicht vor, strafbar ist der Täter nur wegen Aussetzung (mit Todesfolge).
i) Täterschaft und Tatbeteiligung
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Für die strafbare Beteiligung am Mord gelten die allgemeinen Regeln der §§ 25 ff. StGB. Eine herausragende Bedeutung hat das umstrittene Zusammenspiel der §§ 28, 29 StGB mit den verschiedenen Mordmerkmalen des § 211 Abs. 2 StGB. Alleintäter eines Mordes ist, wer die Tötungshandlung selbst begeht und dabei auch ein Mordmerkmal selbst verwirklicht, § 25 Abs. 1 Alt. 1 StGB. Mord in mittelbarer Täterschaft (§§ 211, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB) ist die Veranlassung einer Tötung durch einen Menschen, der die Eigenschaften hat, die ihn nach den Regeln über die mittelbare Täterschaft zum „Werkzeug“ oder „Tatmittler“ machen. Wer von den beiden Beteiligten – mittelbarer Täter und Tatmittler – das Mordmerkmal erfüllen muss, hängt von dem konkret erfüllten Mordmerkmal ab. Die Mordmerkmale der 1. und der 3. Gruppe muss der mittelbare Täter selbst erfüllen, die Mordmerkmale der 2. Gruppe kennzeichnen die Art der Tatausführung und sind deshalb mit dem todesursächlichen Handeln des Werkzeugs verknüpft. Allerdings sind die Gesinnungskomponenten „feindselige Willensrichtung“ (Heimtücke) und „rohe, unbarmherzige Gesinnung“ (Grausamkeit) Strafbarkeitsvoraussetzungen, die der mittelbare Täter persönlich erfüllen muss. Die Rolle des „Werkzeugs“ kann ein Totschläger einnehmen, der selbst aus § 212 StGB strafbar ist, aber kein Mordmerkmal erfüllt. Man spricht bei einer solchen Konstellation vom „Täter hinter dem Täter“.[229] Die „Überlegenheit“