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Ein neuerer Ansatz[186] erblickt den „eigenen“ Verbandswillen und die „natürliche“ Handlungsfähigkeit des Verbands im „realen“ Tätigwerden des Verbands, das er als dessen (originär) „eigenes“ Handeln begreift. Angeknüpft wird hierbei insb. an die Theorie der realen Verbandspersönlichkeit von Otto v. Gierke, wonach Verbände reale, eigenständige soziale Subjekte seien und „selbst“ durch ihre Vertreter handeln (Rn. 7), aber auch an die Systemtheorie von Niklas Luhmann, wonach sich das Verhalten eines sozialen Systems als dessen eigenes Handeln begreifen lasse. Teilweise wird auch in Anlehnung an Immanuel Kant angenommen, dass jede Handlung natürlicher Personen, die als Teil einer juristischen Person vollzogen wird, „eine Handlung des Ganzen, mithin jedes einzelnen Teiles“ darstellt.[187] Freilich ist gegen diese Sichtweisen erneut einzuwenden, dass nicht der Verband „selbst“ handelt, sondern dass Menschen „für ihn“ handeln, womit aus der Perspektive des Rechts (nur) eine Zurechnung von Handlungen an den Verband als „eigene“ stattfindet.
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Überzeugender ist die verbreitete[188] Annahme, dass einem Verband die willensgetragenen Handlungen seiner Leitungspersonen auch strafrechtlich als „eigene“ zuzurechnen sind, mithin eine „Form des eigenen Handelns durch einen anderen“[189] vorliegt. Teilweise[190] werden einem Unternehmen sogar die Handlungen aller Personen zugerechnet, die ihm angehören. Maßgebend ist in jedem Fall die normative Anerkennung. Prägnant formulierte dies Franz v. Liszt bereits im Jahr 1881: „Wer Verträge schließen kann, der kann auch betrügerische oder wucherische Verträge schließen“.[191] Soweit hierdurch aber auf das Zivilrecht und speziell auf § 31 BGB[192] abgestellt wird, wonach Vereine für Handlungen ihrer Organe „haften“, ist dem entgegenzuhalten, dass der Schluss von der zivilrechtlichen Haftung auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht zwingend ist.[193] Auch der Hinweis darauf, dass dem Strafrecht die Zurechnung eines Verhaltens „als eigenes“ nicht fremd sei, weil bei § 25 StGB dem mittelbaren Täter das Verhalten des Tatmittlers zugerechnet wird und auch bei der Mittäterschaft Tatbeiträge wechselseitig zugerechnet werden,[194] verfängt nicht. In diesen Fällen liegt ein (originär) eigenes Handeln und Wollen des Täters vor, an das die Zurechnung anknüpft.[195] Durchgreifend ist dagegen der Verweis auf § 30 OWiG, da die Festsetzung einer Verbandsgeldbuße die Begehung einer Tat durch eine Leitungsperson voraussetzt, womit eine Zurechnung von Handlungen normiert ist. Wenn aber eine Zurechnung im Ordnungswidrigkeitenrecht konstruktiv möglich ist, dann muss sie das auch im Strafrecht sein, da der Handlungsbegriff in beiden Rechtsgebieten identisch ist und aus dem Unterschied, der zwischen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten im Hinblick auf das Unrecht besteht (Rn. 25), keine abweichende Bewertung der Handlungsfähigkeit resultieren kann.[196] Weiter ist auf die strafrechtliche Regelung des § 74e StGB (Rn. 46) hinzuweisen: Bei der Einziehung von Verbandseigentum, das zu einer strafbaren Handlung missbraucht wurde, wird die Handlung des Organs oder Vertreters dem Verband nach dem Wortlaut des Gesetzes ausdrücklich „zugerechnet“.[197] Schließlich kann darauf hingewiesen werden, dass das BVerfG bereits im Jahr 1966 im Bertelsmann-Lesering-Beschluss ausgeführt hat, dass „die juristische Person […] als solche nicht handlungsfähig [ist]“, womit die „für sie verantwortlich handelnden Personen“ maßgebend sind.[198]
2. Schuldfähigkeit
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Die „Gretchenfrage“ des Verbandsstrafrechts bildet die seit langem sehr kontrovers geführte Diskussion um die Schuldfähigkeit von Verbänden, die an die Frage der Handlungsfähigkeit anschließt. Im deutschen Recht setzt Strafe stets Schuld voraus. Nach dem BVerfG beherrscht der Schuldgrundsatz den gesamten Bereich staatlichen Strafens und hat Verfassungsrang: „Er ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert“.[199] Infolge der Verankerung in der Menschenwürdegarantie gehört er zur unverfügbaren Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG) und ist damit auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt.[200]
a) Schuldgelöstes Strafrecht
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Im Hinblick auf die fundamentale Bedeutung des Schuldgrundsatzes müssen alle Versuche, ihn auszuhebeln, scheitern. Das gilt etwa für den früher von Schünemann[201] verfochtenen Ansatz, wonach die Verletzung des Schuldgrundsatzes kein Hindernis darstelle, wenn ein Rechtsgüternotstand vorliege, der aus einer dem Notstand vergleichbaren „Schwächung effizienter Prävention“ im Bereich der Unternehmenskriminalität resultiere; das Verschulden sei – sofern der Rechtsgüterschutz schwerer wiege als die Einbuße durch die Sanktion – durch ein „überwiegendes öffentliches Interesse“ an der Bestrafung ersetzbar. Abgesehen davon, dass eine prozessuale Beweisnot nicht die Schaffung materieller Sanktionen rechtfertigt,[202] würde dadurch das Strafrecht zu einem Haftungsrecht „denaturiert“.[203] Durchgreifenden Bedenken begegnet auch der Ansatz von Otto,[204] der Verbandssanktionen (nur) als wirtschaftsaufsichtsrechtliche Maßnahmen bewerten und damit dem Anwendungsbereich des Schuldgrundsatzes entziehen, die Maßnahmen aber zugleich als „repressiv orientierte Präventionsmittel“ begreifen möchte, vergleichbar mit „Ordnungsmitteln nach § 890 ZPO“. Bereits im Bertelsmann-Lesering-Beschluss von 1966 hatte das BVerfG entschieden, dass der Schuldgrundsatz auch für die „strafähnliche Sanktion“ des § 890 ZPO gilt.[205]
b) Schuld = nur Individualschuld
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Traditionell[206] wird davon ausgegangen, dass Verbände nicht schuldfähig sind. Nur gegenüber Menschen könne der Vorwurf sozialethischen Versagens erhoben werden, nur der Mensch könne sich aus freier und verantwortlicher Selbstbestimmung heraus für das Recht und gegen das Unrecht entscheiden, verfüge über eine „natürliche“ Schuldfähigkeit. Auf juristische Konstrukte sei der Schuldbegriff „schlechthin unübertragbar“.[207]
aa) Verschulden der Mitglieder
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Der bereits bei der Handlungsfähigkeit dargestellte ältere Ansatz (Rn. 57) ging nicht nur davon aus, dass ein Verband durch seine Mitglieder „selbst“ handelt, sondern dass das schuldhafte Handeln der Mitglieder auch das Verschulden begründet,[208] der Verband also deshalb über eine „natürliche“ Schuldfähigkeit verfügt. Hiergegen wurde aber bereits früh zu Recht eingewandt, dass dies auf die pauschale Bestrafung aller Mitglieder