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Die berühmteste Lesart des Verwaltungsrechts, die diesem Verständnis entgegensteht, ist diejenige von Albert Venn Dicey,[102] der das Projekt eines Verwaltungsrechts, einem droit administratif, als mit der rule of law und einem freiheitlichen Gemeinwesen unvereinbar ablehnt. Dicey steht diametral zum kontinentalen Deutungsmuster, welches das aufkommende Verwaltungsrecht als Ausdruck des liberalen Rechtsstaates feiert. Als Grund für Diceys Ablehnung eines droit administratif wird allerdings nicht nur traditioneller Freiheitssinn, sondern auch eine konservative Skepsis gegenüber zeitgenössischen Reformen vermutet, die dem Prinzip gleicher Freiheit verpflichtet waren.[103] Diese Lesart findet einen weiteren Höhepunkt 1929 in dem Buch The New Despotism, in dem der höchst konservative Lord Chief Justice Gordon Hewart das aufkommende sozialstaatlich orientierte Verwaltungsrecht als „organised“ oder „administrative lawlessness“ brandmarkt.[104] Diceys konservativ inspirierte Kritik bestätigt also das emanzipatorische Potenzial.
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Gewiss steht die Verwaltungsrechtswissenschaft keineswegs allein auf der Seite bürgerschaftlicher Emanzipation, weder im 19. Jahrhundert noch heute. Das Werk Otto Mayers etwa weist autoritäre Züge auf.[105] Die prinzipielle Ambivalenz hält Patrice Chrétien, Prosper Weil zitierend, treffend fest: Sie ist eine Disziplin, „die gleichzeitig Dienerin individueller Freiheit und Garant effektiver Verwaltung, Beschützerin des Bürgers gegen die Exekutive und Mittel zur Durchsetzung des Regierungswillens sein will“.[106] Das Verwaltungsrecht bleibt, so auch die Kernaussage des vorherigen Abschnitts, in wesentlichen Hinsichten ein Herrschaftsinstrument.
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Insbesondere in Konstellationen, in denen die Hoheitsgewalt nur schwach ausgeprägt ist, wird die herrschaftliche Komponente durch die Wissenschaft profiliert und unterstützt. So begleitet sie in Italien im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Verwaltungsrecht, das den Untertan als Rechtssubjekt zwar anerkennt, das Pendel zwischen dem liberalen und dem autoritativen Moment aber weit auf die autoritative Seite schwingen lässt.[107] Diese Wissenschaft korrespondiert mit einem neu geformten Staat, der sich nur mit Mühe auf dem ganzen Territorium etabliert. Dies schlägt sich in den wissenschaftlichen Aufbereitungen wichtiger verwaltungsrechtlicher Institute durch unitarisch gesinnte Professoren nieder: Fehlen von Verfahrensrechten, allgemeine Zulässigkeit von Rücknahme und Widerruf von Akten, kompromisslose Verwaltungsvollstreckung, eine nur beschränkte Haftung des Staates. Hier zeigen sich Parallelen mit der Entwicklung des Verwaltungsrechts der Europäischen Gemeinschaften. Im Konflikt von Interessen des betroffenen Bürgers mit solchen der europäischen Institutionen hat der EuGH über lange Zeit nicht selten den Letzteren den Vorzug gegeben. Deutlich wird dies etwa in den unterschiedlichen Haftungsregimen für mitgliedstaatliches Unrecht einerseits, gemeinschaftliches Unrecht andererseits.[108]
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Die Verwaltungsrechtswissenschaft operiert als Kollektiv gewiss nicht revolutionär. Der emanzipatorische verwaltungsrechtswissenschaftliche Beitrag im 19. Jahrhundert besteht vor allem in der Entwicklung und Ausbuchstabierung von Rechtsinstituten, in denen die politischen und staatsrechtlichen Kompromisse zwischen freiheitlichen und obrigkeitlichen Kräften operativ werden können.[109] Diese Gründungskonstellation findet sich nicht allein im 19. Jahrhundert. So entwickelt sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts im frankistischen Spanien eine glänzende Verwaltungsrechtswissenschaft, welche die wenigen Freiheitsräume, die das Franco-Regime einzuräumen bereit ist, dogmatisch durchformt und in einem progressiven Sinne stabilisiert.[110] Ähnlich blüht in der Volksrepublik Polen in Epochen zaghafter Liberalisierungen die dogmatische Verwaltungsrechtswissenschaft auf.[111]
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Als Verwaltungsrecht prägt sich zumeist derjenige Teil des öffentlichen Rechts aus, zu dem sich ein normativer Diskurs etablieren kann, der sich vom politischen Diskurs unterscheidet, wo also die Rechtsnorm einen, auch institutionell gesicherten, Selbststand gegenüber Trägern öffentlicher Macht aufweist. Nur dann entsteht ein allgemeiner Bedarf nach argumentativen Kenntnissen, welche in der spezifischen Kompetenz von Juristen liegen. Regelmäßig grundlegend für eine solche Normativität ist eine Gerichtsbarkeit, die hoheitliches Handeln auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen kann.[112] Entsprechend bildet sich die Verwaltungsrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert als jener Teil der Wissenschaft des öffentlichen Rechts aus, der auf eine solche Gerichtsbarkeit bezogen ist, auf ihre Organisation, ihr Verfahren und das von ihr anzuwendende Recht. Eingebunden wird zunächst der nachgeordnete Verwaltungsapparat. Die Regierung wird durch dieses Verwaltungsrecht in ihren strategischen Handlungen kaum behindert. Ihr kann somit die gerichtliche Kontrolle als ein Instrument dezentraler Kontrolle des Verwaltungsapparats dienen, eine Konstellation, die sich im europäischen Rechtsraum mit Blick auf den Vollzug durch mitgliedstaatliche Behörden wiederholt.[113] Die Anerkennung des Bürgers, so wie sie sich letztlich verwirklicht, erfolgt nicht uneigennützig. In den Mitgliedstaaten werden es erst die liberaldemokratischen Verfassungen sein, welche den Umbau des Verwaltungsrechts ex parte civium wirklich voranbringen.[114]
b) Zur disziplinären Ausrichtung im europäischen Rechtsraum
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Es findet sich somit in der Gründung und Entwicklung des Verwaltungsrechts als wissenschaftlicher Disziplin ein emanzipatorischer Impetus, der zu einer gemeineuropäischen Identität des Faches beitragen kann. Eine solche Identität erscheint angezeigt angesichts der strukturellen Legitimationskrise des Unionsrechts und der Gefahr, dass die Bürokratien im europäischen Verbund sich in ihrem Netz selbstbezüglich verfangen und die Rechtsunterworfenen aus dem Blick verlieren. Auch geht es, ähnlich wie zu Zeiten des Sonderrechts des 18. Jahrhunderts, um die effiziente Verwirklichung hoheitlicher Aufgaben im Rahmen eines politischen Projekts, einen Binnenmarkt, eine Währungszone, einen einheitlichen Rechtsraum zu schaffen, nunmehr nicht auf nationaler, sondern europäischer Ebene. Die Politiken des Dritten Teils des AEU-Vertrags bezwecken gesellschaftliche Steuerung und Transformation, denen gegenüber der Einzelne sich bisweilen nur mühsam als Rechtssubjekt positionieren kann.
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Der emanzipatorische Gehalt des Begriffs Verwaltungsrecht sollte im europäischen Rechtsraum in Erinnerung gerufen und als Verpflichtung begriffen werden. Es wäre ein Verlust, ihn auf das Unionsrecht ohne diese kritische Spitze anzuwenden; sie sollte in die normative Konstruktion von Verwaltung im europäischen Rechtsraum eingehen.[115] Im heutigen rechtlichen und wissenschaftlichen Kontext kann dies dogmatisch am ehesten mittels einer Konstitutionalisierung des Unionsverwaltungsrechts erfolgen, also einer verfassungsrechtlichen Ausrichtung des sekundärrechtlichen Materials an Verfassungsprinzipien und einzelnen Grundrechten. Der verfassungsrechtliche Ansatz im Unionsrecht wird sich gerade an dieser Frage beweisen müssen.[116] Der EuGH nutzt bereits die Primärrechtskonformität als Auslegungsmethode, also das Argument der Verfassungskonformität.[117] Zahlreiche sekundärrechtliche Akte sind zudem ausdrücklich nach ihren Begründungserwägungen im Lichte von Grundprinzipien, insbesondere einzelner Grundrechte, zu deuten. Die Grundrechte-Charta be- stärkt diese Konstitutionalisierung, ja ruft durch ihr Inkrafttreten zu einer transformierenden Durchdringung des Unionsverwaltungsrechts gerade auf, indem sie zahlreichen Interessen eine verfassungsrechtliche Dimension verleiht. Es gibt bereits eine Rechtsprechungslinie, welche individuelle Rechtspositionen grundrechtlich umdeutet, was eine grundrechtsorientierte Konstitutionalisierung befördert.[118] Dies verlangt die Überwindung von Verständnissen des Unionsverwaltungsrechts als Teil eines „Integrationsrechts“ oder „Binnenmarktrechts“, Konzeptionen,