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Die weitere Entwicklung des französischen Sonderrechts prägt die Ausbildung einer eigenen administrativen „Klasse“ mit staatsleitender Funktion, die ein spezifisches Rationalitäts- und Effizienzmodell verfolgt,[44] ähnlich wie später die politische EU-Bürokratie der Kommission. Diese Klasse, geführt durch die Mitglieder des Conseil d’État, verfügt über beträchtliche Autonomie selbst gegenüber der Regierung. Karl Marx wird sie polemisch in ihrem Eigenstand schildern, kann er sie doch nicht mit seiner Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit fassen.[45] Die Räte des Staatsrats prägen das Verwaltungsrecht keineswegs nur durch ihre Entscheidungen; sie sind zugleich die Protagonisten der Verwaltungsrechtswissenschaft.[46]
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Die Dritte Republik beseitigt zwar den Autoritarismus des Zweiten Empire, nicht aber das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht und die Schlüsselstellung des Conseil d’État. In diesem Sinne versteht sich die Bedeutung des Blanco-Urteils des Tribunal des conflits als Gründungsmythos des zeitgenössischen französischen Verwaltungsrechts. Dieses Tribunal,[47] gegründet auf ein neues, republikanisches Gesetz von 1872, bestätigt das Verwaltungsrecht als Sonderrecht in der Verantwortung des Conseil d’État.[48] Als solches erscheint es als paradigmatisch für die Verwaltung eines starken Nationalstaates, dem sich viele Rechtswissenschaftler, nicht nur in Frankreich, verpflichtet fühlen. Angelpunkt des Sonderrechts ist und bleibt der Begriff der puissance publique. Der Versuch von Léon Duguit, den service public als neuen Begriff an die Stelle des Begriffs der puissance public zu setzen, hat in dessen Radikalität noch nicht einmal unter seinen Anhängern Erfolg.[49] Die Demokratisierung der Verwaltung, ja selbst später ihre Konstitutionalisierung mittels allgemeiner (Verfassungs-)Prinzipien und Grundrechte, heben keineswegs den Herrschafts- und Sonderrechtscharakter auf, sondern binden ihn in spezifische Regime ein. Jean Rivero hält 1953 klassisch fest: „[L]a ‚dérogation au droit commun‘ ne se fait pas à sens unique, mais dans les deux directions, opposées, du plus et du moins“.[50]
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Es gibt nirgends im europäischen Rechtsraum eine Verwaltungsrechtswissenschaft, die ihre Gründungsgeschichte ohne Blick auf dieses französische Verwaltungsrecht erzählt. Sabino Cassese formuliert prägnant: „Paris kommt für das Verwaltungsrecht die Rolle zu, die Rom für das Privatrecht innehat“,[51] was die fundamentale Bedeutung der Verwaltungsrechtsvergleichung belegt.[52] Allerdings führt diese keineswegs zu einer simplen Übernahme des zeitgenössischen französischen Systems, so dass die französische Verwaltungsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts kurzum als gemeinsame Grundlage einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft begriffen werden könnte. Dies zeigen eindrücklich die deutsche und die englische Rezeption, die für den europäischen Rechtsraum besonders bedeutsam sind, weil die deutsche, die englische und die französische verwaltungsrechtliche Tradition über besondere Prägekraft verfügen.[53]
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Sowohl das deutsche wie das englische Interesse gelten dem Sonderrechtscharakter des französischen Verwaltungsrechts. Dabei ist bemerkenswert, dass sich die deutschen und englischen Autoren am Ende des 19. Jahrhunderts weniger auf das ihnen zeitgenössische französische Verwaltungsrecht der Dritten Republik beziehen, sondern auf das des autoritär geprägten Zweiten Empire. Dies erleichtert es Albert Venn Dicey, die illiberalen Züge des droit administratif herauszustreichen und für das freiheitliche England als unpassend zu verwerfen.[54] Mancher britische Vorbehalt gegen das Unionsrecht, das, wie sogleich zu zeigen ist, Elemente eines Sonderrechts aufweist, mag dieser Tradition geschuldet sein. Otto Mayer hingegen kann mittels seiner Bezugnahme auf das französische Verwaltungsrecht des Zweiten Empire dem deutschen Verwaltungsrecht eine prononciert herrschaftliche Komponente geben.[55] Dieser deutsche wissenschaftliche Ansatz, der das Verwaltungsrecht als Sonderrecht auf den Lehren des deutschen Staatsrechts und der deutschen Privatrechtswissenschaft aufbaut, hat in vielen europäischen Rechtsordnungen großen Einfluss.[56]
aa) Sonderrechtscharakter des Integrationsrechts insgesamt?
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Eine Betrachtung der Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts im Lichte der Frühzeit des staatlichen Verwaltungsrechts fördert bemerkenswerte Parallelen zu Tage. Diese Parallelen zeigen, wie problematisch die legitimationserheischende Qualifizierung des Gemeinschaftsrechts als ein neues ius commune[57] sowie ein ähnlich ausgerichtetes verfassungsrechtliches Narrativ der Gemeinschaft[58] sind. Das herrschaftsorientierte Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht der Exekutive[59] bietet ein alternatives und deutlich kritischeres Deutungsmuster zum Verständnis der unionalen Rechtsschicht im europäischen Rechtsraum, zunächst einmal als ein Sonderrecht der europäischen Integration insgesamt. Eine enge Verbindung zum französischen Recht besteht durchaus: Erinnert sei nur an die paradigmatische Rolle des Conseil d’État für den Europäischen Gerichtshof sowie an die jahrzehntelange französische Führung der europäischen Entwicklung.[60]
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Das Integrationsrecht schließt in den Mitgliedstaaten die Anwendung des allgemein anzuwendenden (sprich: mitgliedstaatlichen) Rechts aus.[61] Der Zugriff der gemeinen (mitgliedstaatlichen) Gerichte auf dieses neue Recht ist eng beschnitten. Nach Art. 274 AEUV bleiben zwar die Zuständigkeiten der nationalen Gerichte in Streitsachen, bei denen die Gemeinschaft (nunmehr Union) Partei ist, unberührt, soweit der Vertrag keine Zuständigkeit des Gerichtshofs begründet. Die Auffangzuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte für das „allgemeine Recht“ erfasst jedoch allein den Bereich der privatrechtlichen Rechtsbeziehungen,[62] lässt also Anklänge an das erkennen, was im Absolutismus unter dem Fiskusbegriff vor die Gerichte gebracht werden konnte.[63]
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Große Teile des Gemeinschafts- und bis heute des Unionsrechts sind ein administratives Steuerungsrecht, über dessen Rechtmäßigkeit allein Einrichtungen des neuen Hoheitsträgers entscheiden können. Dieses Monopol ist in den Verträgen nicht ausdrücklich niedergeschrieben, sondern wurde seitens des EuGH eingeführt und durch Hinweis auf die Notwendigkeit eines einheitlichen Rechtsraums gerechtfertigt.[64] Zudem hat der EuGH dem Interesse der Durchsetzung des neuen Rechts und des Gelingens des Integrationsprozesses, zumindest bis in die nahe Vergangenheit, eine hohe Präferenz zugemessen.[65] In dieser Perspektive ähnelt das Gemeinschaftsrecht weniger einem neuen ius commune denn einem neuen Sonderrecht, mit dem ein gubernativ-administrativer „Komplex“ gesellschaftliche Transformation im Lichte einer neuen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Einheit betreibt; es bestehen so durchaus Parallelen zur Staatsbildung der Neuzeit, welche die Beiträge in IPE III schildern.
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Im akademischen Bereich zeigen sich ebenso Parallelen. So wie die Fürsten der Neuzeit inspirieren und unterstützen die europäischen Institutionen kongeniale akademische Einrichtungen. Das Collège d’Europe mit Standorten in Brügge und Natolin bildet die vielleicht wichtigste wissenschaftliche Ausbildungsstätte für den europäischen Beamtennachwuchs. Das Europäische Hochschulinstitut in Florenz wurde ebenfalls in Ausrichtung auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet.[66] Bedeutsam für die wissenschaftliche Begleitung der Entfaltung des europäischen Rechts sind zudem die Jean-Monnet-Lehrstühle an staatlichen Universitäten sowie die Forschungsfinanzierung aus Mitteln des EU-Haushalts.
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Wenn das Integrationsrecht also deutliche Momente eines Sonderrechts aufweist, so ist doch auf die Grenzen dieser Parallelisierung hinzuweisen. Sie hat Erkenntniswert vor allem für die Vergangenheit, für den Entwicklungspfad