Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin › III. Verwaltungsrechtswissenschaft als Teil des neuen ius publicum europaeum
1. Pluralismus
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Der gemeineuropäische Befund, wonach die praxisorientierte Dogmatik die Pflicht und darüber hinausgehende Fragestellungen die Kür in der Verwaltungsrechtswissenschaft bilden, erscheint nur zukunftsträchtig, wenn die Kür, wie in jeder guten Vorstellung, als unerlässlich begriffen wird. Aldo Sandulli zeigt anschaulich, dass die italienische Verwaltungsrechtswissenschaft der juristischen Methode nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihren Niedergang im 20. Jahrhunderts verdankt. Sie vermochte neue Fragestellungen, Methoden und Wissensbestände kaum zu integrieren, so dass sie ihre Leitfunktion zunehmend verlor.[148] Sabino Cassese brachte in diesen Forschungskontext durch die intensive Rezeption angloamerikanischer Verwaltungsrechtswissenschaften und deutscher Organisationssoziologie ab den siebziger Jahren einen belebenden Innovationsschub ein, ähnlich wie in Deutschland ab den neunziger Jahren Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann. Für den Erfolg dieser Weiterung der Verwaltungsrechtswissenschaft ist es entscheidend, diese Öffnung disziplinintern zu etablieren, ohne dabei die dogmatische Arbeit zu beschädigen.
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Für die Sichtbarkeit einer nationalen Verwaltungswissenschaft im europäischen Rechtsraum wird es vor allem auf grundbegrifflich ausgerichtete dogmatische Arbeit sowie die interdisziplinär und theoretisch ausgerichtete Forschung ankommen. Anwendungsorientierte dogmatische Beiträge zu Einzelfragen insbesondere des mitgliedstaatlichen Rechts, das Gros der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Arbeit, ist hingegen in der Regel so eng mit dem spezifischen nationalen Rechtsmaterial verwoben, dass sie nur schwer zu rezipieren sind. Neben der dogmatischen Betrachtungsweise bedarf es wirkungsorientierter, aufgabenbezogener und nicht zuletzt kritischer Betrachtungsweisen des Verwaltungsrechts, die nicht nur mit technisch-juristischer Begrifflichkeit, sondern auch mit Skalierungen, Leitbildern, Typologien sowie einer Vielzahl von Methoden und Interessen arbeiten. Diese Pluralisierung hat transformatorischen Charakter: Danach bestimmt sich nämlich die Verwaltungsrechtswissenschaft nicht mehr über eine einzige Methode;[149] ein neokantianischer Wissenschaftsbegriff passt nicht mehr auf sie. Die Pluralisierung greift so die überkommene Identität des Faches an. Es soll nicht der einzige Angriff sein.
2. Identitätsprobleme und -arbeit
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In vielen Rechtsordnungen hat sich die Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Konzentration auf verwaltungsrechtliches Material des jeweiligen Staates und in Abgrenzung zu anderen Disziplinen etabliert. Dies gilt in besonderer Weise in Rechtsordnungen, in denen, wie in Frankreich, Italien oder Spanien, strenge institutionelle Abgrenzungen bestehen, also von den Professoren eine strikte Fokussierung auf das Verwaltungsrecht erwartet wird. Aber auch in rechtswissenschaftlichen Traditionen mit offeneren Profilen, etwa im Vereinigten Königreich oder in Deutschland, hat das Fach ein Proprium im staatlichen verwaltungsrechtlichen Material gefunden, wie der weitgehend standardisierte Zuschnitt der disziplinprägenden Lehrbücher zeigt. Bereits die Konstitutionalisierung hat diese Trennung in Frage gestellt.[150] Im Zuge der Entwicklung des europäischen Rechtsraums bedarf es zudem einer rechtsordnungsübergreifenden Bearbeitung von verwaltungsrechtlichen Fragen. Angesichts der Bedeutung unionsrechtlicher Vorgaben in der verwaltungsrechtlichen Praxis der Mitgliedstaaten, selbst in der Schweiz,[151] sieht sich die praxisorientierte Verwaltungsrechtswissenschaft gezwungen, sich unionsrechtlich auszuweiten. Die Überwindung des staatlichen Gesichtskreises drängt auf eine Fortentwicklung, ja Transformation der traditionellen Identität des Faches; zwei Aspekte ragen heraus:
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Erstens steht eine Europäisierung der Identität im Rahmen eines neuen ius publicum europaeum an. Das historische ius publicum europaeum zeichnete aus, dass es auf einer integrierten Wissenschaftskultur aufruhte. Im 19. Jahrhundert findet man in Deutschland sogar eine Wissenschaft des öffentlichen Rechts ohne staatsrechtliche Grundlage,[152] vergleichbar mit der polnischen Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert.[153] Ungeachtet eines entwickelten europäischen Verwaltungsrechts ist man heute von einer gemeinsamen Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa weit entfernt. Dieser Band zeigt dies anschaulich. Obwohl auf der Grundlage eines einheitlichen Fragebogens entwickelt, fallen die Beiträge recht unterschiedlich aus, selbst unter kulturell und sprachlich verwandten Staaten wie Deutschland, Österreich und der Schweiz. Diese Unterschiede können nicht allein dadurch erklärt werden, dass individuelle Forscherpersönlichkeiten sie verfassten. Vielmehr zeigt sich in den Unterschieden die Vielfalt der nationalen Wissenschaftsstile und -kulturen. Einen europäischen Diskussions- und Rezeptionszusammenhang gibt es derzeit nur in Ansätzen, weil eben die meisten Verwaltungsrechtler sich in erster Linie mit Blick auf das jeweilige staatliche Verwaltungsrecht und die entsprechende wissenschaftliche Community begreifen. Dies kann als kollektive Ausrichtung für die Zukunft kaum überzeugen. Soll der europäische Rechtsraum den berechtigten Rationalitätserwartungen genügen, die im 20. Jahrhundert mit Blick auf das staatliche Verwaltungsrechts formuliert wurden, so bedarf es einer intensiven wissenschaftlichen Begleitung, die allein aus den nationalen Wissenschaftsräumen heraus nicht geleistet werden kann. Es bedarf einer europäischen wissenschaftlichen Community des Verwaltungsrechts, und eine solche Community verlangt eine entsprechende Identität ihrer tragenden Mitglieder. Der Weg dahin ist weit und mühsam: die Sprachenfrage, die Unübersichtlichkeit der Forschungs- und Publikationslandschaft, schlichtweg die Vielgestaltigkeit des europäischen Wissenschafts- und Rechtsraums.
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Zweitens ist im europäischen Rechtsraum eine verwaltungsrechtswissenschaftliche Identität, die sich in erster Linie aus einer Abgrenzung des verwaltungsrechtlichen Materials gegenüber verfassungsrechtlichem, unionsrechtlichem, aber auch privatrechtlichem und völkerrechtlichem Material bildet, kaum aussichtsreich. Die disziplinäre Positionierung der Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum sollte weniger durch die Bestimmung von Grenzen, und erst recht nicht durch die Fixierung einer Methode, sondern vor allem durch die Klärung ihres zentralen Interesses als Teil des öffentlichen Rechts erfolgen. Das öffentliche Recht findet, zumindest in freiheitlich-demokratischen Staaten, seine Mitte in der auf die Aufklärung zurückgehenden Idee der Freiheit und der daraus folgenden Spannung zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Handlungsfähigkeit. Als verwaltungsrechtlich sind unter diesem Verständnis in erster Linie solche Rechtsmaterien zu begreifen, welche die organisations-, verfahrens- und materiellrechtlichen Vorgaben bürokratischen Einwirkens auf private Rechtssubjekte regeln.[154] Die rechtsquellentheoretische Zuordnung zum Völkerrecht, Unionsrecht oder staatlichen Recht sollte hingegen in Zeiten der Interdependenz der verschiedenen Rechtsordnungen nicht mehr das primäre Kriterium disziplinärer Identität bilden.[155] Die Verwaltungsrechtswissenschaft sollte als unselbständiger Teil eines europäischen öffentlichen Rechts, eines ius publicum europaeum, betrieben werden, das sich aus staatlichen, suprastaatlichen und völkerrechtlichen Komponenten speist. Rigide Primäridentitäten wie Verwaltungsrechtler, Verfassungsrechtler, Europarechtler oder Völkerrechtler werden prekär. Es steht zu erwarten und zwecks einer problemadäquaten Wissenschaft gar zu hoffen, dass sie sich im europäischen Rechtsraum verflüssigen. Andere Identitätsgehalte wie ein besonderes Interesse an einem Sachgebiet (Sicherheitsrecht, Umweltrecht, Verfahrensrecht oder Rechtsschutz im Mehrebenensystem) oder einer bestimmten Aufgabenstellung (dogmatischer Systembau, Anwendungsdiskurse, eine bestimmte theoretische Forschungsrichtung) werden an Gewicht für das Selbstverständnis gewinnen. Eine Pluralisierung der Identitäten wird die Attraktivität der Wissenschaft