a) Rückblick
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Eine jede Rechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum steht vor der Frage, ob sie sich weiterhin primär als Dogmatik begreift und wie sie es mit anderen, insbesondere interdisziplinären, etwa verwaltungswissenschaftlichen, Fragestellungen hält.[122] Der gemeineuropäische Befund der Beiträge dieses Bandes lautet, dass die Verwaltungsrechtswissenschaft mehr noch als die Verfassungsrechtswissenschaft dogmatisch auf die rechtliche Praxis und ihre konkreten Probleme ausgerichtet ist. Dies erklärt sich etwa aus der größeren Anzahl der Erstinterpreten, die schon aus Gründen der Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit einer Anleitung bedürfen, aus der geringeren Anzahl der Zwischenschritte zum Vollzug gegenüber Individuen und aus der Detaildichte des Rechtsgebiets. Die meisten Wissenschaftler sehen ihre vordringliche Aufgabe darin, das umfangreiche und in ständigem Wandel befindliche verwaltungsrechtliche Material, Normen wie Urteile, mit Blick auf Lehre und Anwendung beschreibend vorzustellen und mit Blick auf mögliche Bedeutungen, Konflikte und Effekte zu analysieren. Eine weitere Aufgabe liegt darin, das neue Material im Lichte allgemeiner Lehren, übergeordneter Prinzipien und etablierter Traditionsbestände rationalisierend zu systematisieren, wobei diese „Arbeit am System“ überaus unterschiedlich ausfällt. Die praktische Orientierung ist in Rechtsordnungen mit einer vergleichsweise geringen Anzahl an Verwaltungsrechtswissenschaftlern wie in Österreich, Schweden, der Schweiz oder Ungarn noch ausgeprägter als in Rechtsordnungen mit einer personell besser ausgestatteten Wissenschaft wie in Deutschland, Frankreich, Italien oder dem Vereinigten Königreich.[123] Zwangsläufig: Die bevölkerungsärmeren Staaten verfügen nur über einen Bruchteil des verwaltungsrechtswissenschaftlichen Personals, die verwaltungsrechtliche Komplexität ist aber, nicht zuletzt dank europäischer Vorgaben, kaum geringer. Der gemeineuropäische Befund lautet: Praxisorientierte Verwaltungsrechtswissenschaft ist die Pflicht, interdisziplinär oder theoretisch ausgerichtete Wissenschaft die Kür.
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Die Verwaltungsrechtswissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts bearbeitet das geltende Recht mit dem als „staatswissenschaftlich“ bezeichneten neuzeitlichen Methodenmix, dessen Überwindung im Verlaufe des Jahrhunderts als eine ihrer großen wissenschaftlichen Leistungen gilt.[124] Im 19. Jahrhundert entwickelt sich, in Anlehnung an Dogmatiken zum Kirchenrecht und zum Privatrecht, eine stärkere Trennung zwischen einem „internen“ und einem „externen“ rechtswissenschaftlichen Umgang mit dem rechtlichen Material. Während die externe Betrachtung Wissen anderer Disziplinen zwecks Erkenntnis des Rechts rezipiert oder aber eigene philosophische oder soziologische Erwägungen entwickelt, geht es bei der internen Bearbeitung um die wissenschaftliche, insbesondere systematische Zusammenstellung von Argumenten, die in der Rechtspraxis, nicht zuletzt vor Gerichten, Relevanz erlangen können, um entsprechende Argumentationsstrukturen und Materialordnungen. Dies wird regelmäßig mit dem Begriff Dogmatik (dottrina, doctrine) bezeichnet. Gewiss, die Grenze zwischen „internem“ und „externem“ Diskurs ist nicht hermetisch, sondern je nachdem, ob eine Rechtswissenschaft eher positivistisch oder post-positivistisch operiert, mehr oder weniger permeabel. Wie jedoch der europäische Rechtsraum zeigt, sind selbst höchst permeable Grenzen von größter Bedeutung: Ohne Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten hätte der europäische Rechtsraum eine fundamental andere Gestalt.
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Das neue wissenschaftliche Ideal, wie es zunächst die französische Verwaltungsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts entfaltet, lautet: systematisch und positiv, jenseits bloßer Kompilation, aber ohne Spekulation.[125] Es soll europaweite Resonanz im Zuge eines sich ausdifferenzierenden Wissenschaftssystems haben, im dem jede Wissenschaft ihr Proprium sucht; § 39 in IPE II geht dem im Einzelnen für das Verfassungsrecht nach. Allerdings stellen sich im Verwaltungsrecht angesichts der Masse des Rechtsmaterials andere Herausforderungen als im Verfassungsrecht, dessen Primärmaterial viel beschränkter und übersichtlicher ist.
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Wie soll eine systematische und positive, nicht-kompilatorische und unspekulative Verwaltungsrechtsdogmatik vorgehen, was soll sie leisten? Es geht sowohl um eine Ausgrenzung politischer, historischer und naturrechtlicher Aussagen, aber auch um die Überwindung rein dokumentierender und exegetischer Arbeit. Die „juristische Methode“ verlangt aber nicht allein die Kenntnis des positiven Rechtsstoffes und Hinweise zur Auslegung einer Norm im Streitfall. Das eigentliche Programm ist vielmehr eine Strukturierung des Rechts mittels autonomer Begriffe. Auf dieser Grundlage wird das positive Material transzendiert, aber nicht mittels politischer, historischer oder philosophischer Überlegungen, sondern mittels strukturierender Begriffe, von denen der Verwaltungsakt, der acte administratif, der wohl wichtigste ist. Diese werden als spezifisch juristische und damit autonome Begriffe konzipiert, deren Behandlung demgemäß in der Kompetenz der Rechtswissenschaft liegt.
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Dabei kommt die sog. juristische Methode mit bemerkenswert wenig methodischer Reflexion aus. Die einschlägigen Ausführungen in dem deutschen Lehrbuch, das wie kein anderes den Durchbruch zu dieser juristischen Methode im Verwaltungsrecht symbolisiert, belegen dies anschaulich. Otto Mayer schreibt: „Unser Hauptteil wird die Aufgabe haben, das System der einzelnen Rechtsinstitute dieses Verwaltungsrechts vorzutragen. Dafür gibt es keine klassische Einteilung, die zu befolgen wäre. Wir geben den Stoff, wie er sich von selbst geordnet hat.“[126] Die eigentliche Methode, also das genaue wissenschaftliche Procedere des Vergleichens, der Abstraktion, der Begriffsbildung, der Strukturierung und Materialanordnung, die den Kern dogmatischer Arbeit ausmachen, bleibt im Dunkeln.
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Dies hat der Strahlkraft dieses Zugangs nicht geschadet. Sein Erfolg mag auch der Tatsache zu verdanken sein, dass diese „juristische Methode“ dem Rechtswissenschaftler potenziell eine bedeutende Machtposition zuweist und insbesondere der staatsnahe verwaltungsrechtliche Diskurs zwar nicht in allen,[127] wohl aber in einigen Ländern großen politischen Einfluss gewinnt.[128] Dies gilt besonders in Traditionen, die der deutsche Idealismus geprägt hat.[129] Dieser idealistische Hintergrund wird von Mayer immerhin ausgewiesen. „Sie [scil.: die Methode] beruht auf dem Glauben an die Macht allgemeiner Rechtsideen, die in den Mannigfaltigkeiten des wirklichen Rechts zur Erscheinung und Entfaltung kommen, zugleich aber auch ihrerseits in der Geschichte sich wandeln und fortschreiten. Er hängt bei mir wohl mit Hegelischer Rechtsphilosophie zusammen, vielleicht auch noch mit ganz Unjuristischem, mußte aber schon recht stark sein, daß ich es wagen konnte, solchen Ideen auch in dem zerfahrenen und unfertigen deutschen Verwaltungsrecht nachzugehen, um sie herauszuheben und aufzuweisen.“[130]
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Dogmatischem Denken wird gelegentlich vorgeworfen, ein autoritäres Projekt zu verfolgen.[131] Ohne Zweifel wurden in der Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaften in dogmatischen Figuren abgelagerte, autoritäre Gehalte gegen Demokratisierungsbemühungen gestellt. In diesem Sinne kann man eine der berühmtesten verwaltungsrechtswissenschaftlichen Aussagen überhaupt verstehen: Otto Mayers „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ aus dem Jahre 1924.[132] Sie steht für obrigkeitsstaatliche Beharrungskräfte gegenüber einer liberaldemokratischen Fortentwicklung des Verwaltungsrechts. Dogmatik hat aber nicht zwingend eine solche Ausrichtung; das Verwaltungsrecht entstand vielmehr mit einer