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Bereits die Begrifflichkeit des Primärrechts legt nahe, ein deutlich weiteres disziplinäres Aufmerksamkeitsspektrum zu wählen. Art. 197 und 291 AEUV verwenden zur Bezeichnung von Verwaltungsaufgaben nicht den Begriff Anwendung, sondern den weiteren Begriff der Durchführung (englisch: implementation). Dieser Begriff erfasst neben dem konkreten Vollzug zahlreiche weitere bürokratische Tätigkeiten: implementierende Rechtsetzung, die Erbringung von Leistungen sowie andere Maßnahmen als Rechtshandlungen, etwa die Verbreitung von Informationen wie Rankings oder best practices.[83] Der Begriff des Durchführens korrespondiert, wie Art. 17 Abs. 1 Satz 4 und 41 Abs. 1 EUV zeigen, mit dem Begriff des Verwaltens: Es geht um die Implementation politischer Entscheidungen.[84] Die damit regelmäßig einhergehende intensive Regelung bürokratischer Aktivitäten zeigt entsprechenden Forschungsbedarf an. Die administrative Vorbereitung politischer Entscheidungen fällt hingegen aus diesem Begriff heraus.[85]
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Die Fokussierung allein auf verwaltungsrechtliche „Endprodukte“ würde zudem eine weitere große Herausforderung des europäischen Rechtsraums verkennen: die rechtliche Organisation des oft schwierigen und konfliktträchtigen Zusammenwirkens der Verwaltungen unterschiedlicher Verbände im europäischen Rechtsraum. Die kooperative Durchführung, das gesamte Recht der horizontalen und vertikalen Zusammenarbeit von Verwaltungen, kann kaum sinnvoll als „Sonderrecht“ bonapartistischer Provenienz begriffen werden. Dies zeigen anschaulich Art. 258 und 260 AEUV: Die europäischen Verwaltungsorgane verfügen nach den Verträgen über kein Sonderregime der Durchsetzung mitgliedstaatlicher Pflichten, sondern müssen diese grundsätzlich vor dem EuGH einklagen.[86] Wenn man diese Zuständigkeit als eine besondere Gerichtsbarkeit deuten will, so kaum in der Tradition der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern eher in der einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die wesentlich zur Schlichtung föderaler Streitigkeiten entstand.[87] Ebensowenig lässt sich dieses Verwaltungsrecht als ein Sonderrecht der einseitigen Durchsetzung begreifen. Selbst unter Berücksichtigung einiger bemerkenswerter administrativer Sanktionsmöglichkeiten von mitgliedstaatlichem Ungehorsam[88] treten doch die Verwaltungsorgane der Union, im Ganzen betrachtet, gegenüber den Mitgliedstaaten nicht als überlegener Hoheitsträger auf, der einseitig Rechtsgehorsam durchsetzt. Das europäische Recht an die Adresse der mitgliedstaatlichen Verwaltungen erscheint eher als ein Kooperations- und Koordinationsrecht, kaum als ein Sonderrecht im Sinne einer Überordnung. Der reformierte EU-Vertrag bringt dies nunmehr im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zum Ausdruck.[89]
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Art. 4 Abs. 3 EUV bildet die vertrags- und damit verfassungsrechtliche Grundlage der Zusammenarbeit unionaler und mitgliedstaatlicher Organe im Sinne eines kooperativen Föderalismus. Viele Entscheidungen im europäischen Rechtsraum werden durch eine Vielzahl von interagierenden Organen unterschiedlicher Hoheitsträger in aufwändigen Verfahren erarbeitet und umgesetzt. Das europäische Verbundsystem ist von hoher Komplexität, und die Mechanismen zur Komplexitätsbewältigung sind zumeist kooperativ, was die Gestalt der Union in dieser Hinsicht als einen dialogischen Hoheitsträger konturiert. All dies würde aus dem Fokus der Verwaltungsrechtswissenschaft weitgehend ausgeschlossen, ginge es allein um die individualisierende Tätigkeit gegenüber privaten Rechtssubjekten. Das Recht der administrativen Kommunikation und Koordination ist für das Gelingen des europäischen Rechtsraums von entscheidender Bedeutung und verdient deshalb intensive verwaltungsrechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit.
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Eine Wissenschaft des Unionsverwaltungsrechts, die sich allein um rechtsgestaltende, insbesondere belastende Maßnahmen gegenüber privaten Rechtssubjekten kümmert, kann heute kaum überzeugen. Doch auch in einem breiten Zuschnitt, der sich mit der ganzen Vielfalt bürokratischer Implementationsinstrumente befasst und die komplexen rechtlichen Mechanismen administrativer Kooperation im Verwaltungsverbund in den Blick nimmt, bleibt das Verständnis des Unionsverwaltungsrechts als Sonderrecht leistungsfähig, da es den verfassungsrechtlich problematischen Kern auch der diversen Implementationsinstrumente und der Verwaltungskoordination bezeichnet. Denn diese administrativen Instrumente und die interadministrative Kooperation dienen regelmäßig der Effektivierung und Verstärkung eines bürokratischen Zugriffs auf die administrés, so ein aussagekräftiger französischer Begriff.[90] Vielen Bürgern erscheint der Gesamtkomplex aus europäischen und staatlichen Bürokratien als nahezu kafkaesker Apparat.[91] Bei manchen überstaatlichen Politiken erscheinen ihnen die steuernden und damit verantwortlichen Subjekte nicht nur unverletzlich wie einstmals der Landesherr des Policeyrechts, sondern sogar oft unsichtbar und unfassbar.[92] Mit einer Konzeption des Unionsverwaltungsrechts als Sonderrecht kann die Disziplin dieses fundamentale Problem in die Mitte ihres Wirkens stellen und zugleich einen Impetus zu dessen Bearbeitung gewinnen. Dies führt zum nächsten Punkt.
a) Rückblick
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Einige Darstellungen begreifen bereits das Sonderrecht des 17. und 18. Jahrhunderts als Verwaltungsrecht.[93] Die meisten lassen das Verwaltungsrecht und seine Wissenschaft jedoch erst im 19. Jahrhundert anfangen; der Übergang ins 19. Jahrhundert markiert danach einen Epochenwechsel. Das vorherrschende Selbstverständnis der heutigen Verwaltungsrechtswissenschaft behandelt die Periode vor 1800 als eine überwundene Epoche.[94]
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Dies wird zum einen durch die sich erst im 19. Jahrhundert formende moderne Staatsverwaltung erklärt. Das Verwaltungsrecht erscheint danach in erster Linie als das Recht moderner Bürokratien, mit dem dieser staatliche Apparat politische Entscheidungen umsetzt,[95] als eine „Maschine der Macht“.[96] Verwaltungsrecht, das Recht der Verwaltung, ist so tendenziell als ein genitivus subiectivus zu verstehen: als ein Instrument der Bürokratie, vor allem ihrer politischen Spitze.
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So unzweifelhaft dies ist, so gibt es doch ein gegenläufiges Verständnis. Diese Lesart versteht die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als Ausgangspunkt einer Bewegung, die das Sonderrecht des 18. Jahrhunderts in eine Struktur der rechtlichen Anerkennung des Untertans überführt,[97] es also weniger aus der Perspektive der Monarchen (ex parte principis), sondern primär aus derjenigen der Bürger (ex parte civium) konstruiert. In diesem Sinne wird der Begriff Verwaltungsrecht, Recht der Verwaltung, als ein genitivus obiectivus gelesen. Dies bildet eine Ausrichtung, die sich als Identitätskern der Disziplin gerade angesichts der strukturellen Legitimationskrise der Europäischen Union anbietet.
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Die Wissenschaft des Sonderrechts im 18. Jahrhunderts ist zwar oft der Aufklärung verpflichtet, allerdings zumeist einer obrigkeitlichen und paternalistischen Aufklärung; sie ist keineswegs liberal.[98] Die neue Bezeichnung des Gegenstands als Verwaltungsrecht im 19. Jahrhundert signalisiert das Bemühen von Wissenschaftlern, ihren Gegenstand in das Ringen um die Durchsetzung des liberalen Rechtsstaates einzubringen.[99] Entsprechende Schriften, die nunmehr ein Verwaltungsrecht statt eines Policeyrechts konzipieren, sind Zeugen und einige sogar Motoren einer progressiven Entwicklung: der Transformation eines Machtverhältnisses, beruhend auf dem Sonderrecht, zu einem Rechtsverhältnis. Das Erscheinen von Büchern mit dem Begriff „Verwaltungsrecht“ im Titel ist ein gemeineuropäisches Phänomen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls in der verwaltungsrechtlichen Literatur mutiert das Gegenüber der Verwaltung vom Untertan zum Rechtssubjekt, was einen kategorialen Schritt impliziert. Man kann die Entstehung der Disziplin Verwaltungsrecht als Projekt