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Es hat also untergründig eine gewaltige Mutation im Begriff Verwaltungsrecht stattgefunden. Was ist heute die Logik seiner Praxis?[16] Die meisten Autoren qualifizieren unionale Normen als Verwaltungsrecht wohl aufgrund eines Analogieschlusses: Wenn ähnliche Normen im mitgliedstaatlichen Rahmen als Verwaltungsrecht gelten, so wird diese Qualifizierung auf entsprechende europäische Normen übertragen. Aufgrund dieses komparatistischen und funktionalistischen Vorgehens haben viele Verwaltungsrechtswissenschaften ihre Staatszentriertheit operativ weitgehend überwunden und einen Weg gewiesen, der es erlaubt, die spezifischen Erfahrungen der jeweiligen Traditionen im Umgang mit Hoheitsgewalt in den europäischen Rechtsraum einzubringen.[17] Angesichts der Unterschiedlichkeiten zwischen den Traditionen wird es Differenzen im Verständnis dessen geben, was zum europäischen Verwaltungsrecht gehört, und ein Ziel dieser Handbuchreihe ist es, solche Differenzen offenzulegen und produktiv werden zu lassen. Es bleibt aber zu klären: Was trägt konzeptionell dieses komparatistische und funktionalistische Vorgehen? In welcher Begrifflichkeit kann das europäische Verwaltungsrecht verankert werden, wenn die traditionellen Fundamente erodieren? Und damit: Was kann, was sollte als Identitätskern der Disziplin gelten?
2. Leitende Thesen
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Dies sind die Fragen dieses Beitrags. Mit Blick auf den Gegenstand der Verwaltungsrechtswissenschaft will er zeigen, dass das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht von Hoheitsträgern eine Antwort liefert (II.1.). Für die Ausrichtung der Disziplin, ihr Ethos, schlägt er eine Verwaltungsrechtswissenschaft ex parte civium vor, die an die emanzipatorische Ausrichtung ihrer frühesten Schriften im 19. Jahrhundert anknüpft (II.2.). Bezüglich der Aufgabenstellung propagiert er die Dogmatik als identitätsprägenden Kern, eine Dogmatik allerdings, die interdisziplinär informiert und offen gegenüber anderen rechtswissenschaftlichen Fragestellungen ist (II.3.). Der dritte Teil unterbreitet auf dieser Grundlage einen Vorschlag für die Fortentwicklung des disziplinären Selbstverständnisses (III.), namentlich mittels einer Europäisierung und einer Pluralisierung, jedoch zentriert in dem Faszinosum hoheitlicher Macht.
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Diese Thesen beruhen auf der Annahme, dass die Entfaltung einer Wissenschaft vom europäischen Verwaltungsrecht mit einer Hoffnung, einer Sorge und einem disziplinären Interesse zu erklären ist. Sie beruht erstens auf der Hoffnung, im Europarecht einen Bereich bürokratischer Rationalität zu identifizieren und zu fördern und damit zugleich eine zwischenstaatliche Konzeption dieses Rechts zu überwinden, die dem Recht nur geringen Selbststand (Normativität) lässt. Dies kann sowohl an funktionalistische Ideen anschließen, die auf bürokratisch-expertokratische Verfahren und Routinen setzen, als auch an föderalistische Konzeptionen: Stets geht es darum, den Eigenstand des Integrationsverbands gegenüber den Mitgliedstaaten zu unterstreichen und so einen Herrschaftsträger zu stärken, an dessen Regelungsmacht sich die Zukunft des Kontinents entscheidet.
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Der Forschungsbereich europäisches Verwaltungsrecht ist zweitens der Sorge zu verdanken, dieses supranationale Recht könnte die liberaldemokratische Einbindung und Ausrichtung bürokratischer Herrschaft unterlaufen. Insoweit verschärft die Beobachtung eines europäischen Verwaltungsrechts die Frage nach adäquaten Sicherungen durch Transparenz, Rechtsschutz, materielle und prozedurale Standards und parlamentarische Einbindung. Es gibt einen Argwohn, die europäische öffentliche Verwaltung könnte Aspekte einer geheimen Bürokratie aufweisen, die fern, abgeschottet oder unsensibel Politiken verfolgt, welche die innerstaatliche Ordnung modifizieren, ja umgestalten, und die Bürger entmündigen, ja gängeln.
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Ein dritter Aspekt, der in Deutschland weniger sichtbar ist, liegt in dem disziplinären Interesse, ein neues, wichtiges Forschungsfeld für das eigene Fach zu gewinnen. Über viele Jahrzehnte war die verwaltungsrechtliche von der völkerrechtlichen Forschung weitgehend getrennt. In vielen Staaten, etwa Frankreich, Italien, Österreich, Spanien oder dem Vereinigten Königreich, gibt es eine, wie die Landesberichte zeigen, entsprechende personelle Trennung mit bisweilen scharfen fachlichen Abgrenzungen. Im Zuge der Integration hat nun die Interaktion zwischen gemeinschaftsrechtlichen und nationalen verwaltungsrechtlichen Themen erheblich zugenommen, und entsprechend stellt sich die Frage, welche rechtswissenschaftliche Disziplin hierfür im Kern zuständig ist. Die Begriffsbildung europäisches Verwaltungsrecht erleichtert solche disziplinären „Landnahmen“ zu Lasten der auf Fragen des Überstaatlichen spezialisierten völker- und europarechtlichen Lehrstühle und Einrichtungen. Die Eroberung fremden Territoriums verändert jedoch in aller Regel die Eroberer: Römer, Goten und Quäker richteten sich nach ihren erfolgreichen Landnahmen neu aus.
3. Verwaltungsrechtsvergleichung
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Eine zukunftsträchtige Neuausrichtung des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum ist ohne Verwaltungsrechtsvergleichung kaum denkbar. § 39 im zweiten Band dieses Handbuchs, der zusammenfassende Beitrag zur Wissenschaft vom Verfassungsrecht, legt im Detail dar, warum der europäische Rechtsraum einer begleitenden Verfassungsrechtswissenschaft und diese des Rechtsvergleichs bedarf. Dieselben, hier nicht erneut zu entfaltenden Gründe rufen nach einer ebenso ausgerichteten Verwaltungsrechtswissenschaft. Das ergibt sich bereits aus der Abhängigkeit des Verfassungsrechts vom Verwaltungsrecht: Verfassungsrechtliche Vorgaben werden oft erst in verwaltungsrechtlicher Gestalt wirklichkeitsmächtig.[18] Zudem: Ein ius publicum besteht aus einer verfassungsrechtlichen und einer verwaltungsrechtlichen Komponente, denn ohne ein europäisches Verwaltungsrecht bleibt ein ius publicum europaeum unvollständig.
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Ein Recht zur Verwaltung des europäischen Rechtsraums bedarf einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft, die sich aus den mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaften speist. Einen guten Zugriff auf diese Wissenschaften bietet das Studium ihres je spezifischen Entwicklungspfades. Daher präsentieren die Beiträge dieses Bandes zum einen die mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaften aus einer primär evolutiven Perspektive,[19] zum anderen in einer Reihe von Querschnittsstudien, namentlich zum geistesgeschichtlichen Rahmen (Pierangelo Schiera, § 68), zur Gründerzeit der dogmatischen Wissenschaft (Olivier Jouanjan, § 69), zum Verhältnis der Verwaltungsrechtswissenschaft zu anderen Wissenschaften (Gunnar F. Schuppert, § 70) und zur Geschichte der Verwaltungsrechtsvergleichung (Christoph Schönberger, § 71).[20]
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Eine Verwaltungsrechtswissenschaft