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Anhand dieser Diskussion wird erkennbar, dass die Frage der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit eng verbunden ist mit der Frage, welches (mit den Worten des Blanco-Urteils) „die besonderen Regeln [sind], zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Verwaltung und die Notwendigkeit, die Rechte des Staates mit den Rechten des Einzelnen in Einklang zu bringen“. Welche Erkennungsmerkmale weisen sie auf? Sobald man annimmt, dass die Zuständigkeit dem materiellen Recht folgt, kann das eine nicht mehr ohne das andere gedacht werden. Ohne hier im Einzelnen auf die nach wie vor geführte Diskussion oder die ständig modifizierten Lösungsansätze einzugehen, scheint es dennoch angebracht zu unterstreichen, dass der prozessrechtliche Zugang zu einer Fixierung auf diese beiden Fragen geführt hat und darüber hinaus, zumindest an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten, zu einer Wissenschaft, die auf ein Verwaltungsrecht ausgerichtet ist, das nur für einen Teil der Verwaltungstätigkeiten gilt und im Streitfall in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fällt.
2. Der Beitrag allgemeiner Theorien des öffentlichen Rechts
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Der Paradigmenwechsel zu Beginn des 20. Jahrhunderts versteht sich vor dem Hintergrund der Diskussion über die Rechtspersönlichkeit des Staates. In dieser Hinsicht haben sich zwei Arbeiten hervorgetan, die Vorstellungen des deutschen Rechts in die Debatte einbrachten und sich zu ihnen positionierten. Die erste stammt von Léon Michoud (1855–1916),[59] die zweite von Raymond Carré de Malberg (1861–1935).[60] Freilich war schon vor dem Erscheinen dieser herausragenden Schriften die Rechtspersönlichkeit des Staates anerkannt, genauso wie eine gewisse „Hierarchisierung der Verwaltungsrechtspersonen [personnes administratives]“.[61] Eine Darstellung verlangt insbesondere, zunächst auf Maurice Hauriou und Léon Duguit einzugehen.
a) Zwei beispielhafte Werke
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Nach Erhalt seiner Lehrbefugnis 1882 erhielt Maurice Hauriou (1856–1929) einen Ruf an die juristische Fakultät in Toulouse, wo er ab 1888 den Lehrstuhl für Verwaltungsrecht innehatte. Eher widerwillig, so munkelt man, weil es sich um ein „kaum umrissenes Fachgebiet [handelte], für das sich niemand interessierte“.[62] Dies hinderte ihn nicht daran, 1892 die erste Auflage eines Précis de droit administratif zu veröffentlichen, den er während seiner ganzen Laufbahn weiterentwickeln sollte. Parallel dazu verfasste er über 300 Urteilsbesprechungen, die Principes de droit public (1910) sowie einen Précis de droit constitutionnel (1923).[63] Eng mit seinem Namen ist derjenige von Léon Duguit (1859–1928) verbunden, nicht etwa aufgrund geteilter Überzeugungen, sondern vielmehr weil die beiden zwei gegensätzliche Pole verkörpern, zwischen denen sich die Diskussion über das Verwaltungsrecht entfaltete: Während Hauriou den Schwerpunkt auf die hoheitlichen Vorrechte der „Verwaltungsrechtspersonen“ legte, war Duguit einem radikal anderen Konzept öffentlicher Verwaltung verhaftet. Als Absolvent desselben Zulassungsverfahrens für die Lehrbefugnis wie Hauriou machte er Karriere in Bordeaux und veröffentlichte unter anderem bereits 1901 L’État, le droit objectif et la loi positive sowie, in fünf Bänden zwischen 1911 und 1925, einen Traité de droit constitutionnel.[64] Obwohl die Namen Haurious und Duguits gewohnheitsmäßig gegenübergestellt werden, gibt es doch einige Gemeinsamkeiten. So zehrt ihr Denken namentlich von anderen Disziplinen, besonders der Soziologie. Gleichwohl trennt sie vieles: Duguit wollte ein großes Theoriegebäude errichten, ohne sich allzu sehr um die Realität des positiven Rechts zu scheren. Hauriou hingegen war zwar gleichfalls Theoretiker, blieb aber stets dem Tagesgeschäft verbunden, die Rechtsprechung zu verfolgen und zu diskutieren, wovon seine zahlreichen Entscheidungsbesprechungen zeugen.
b) Die Hauptmerkmale dieser Werke
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Duguit berief sich auf „die Regeln der soziologischen Methode“ und behauptete, sich jedem metaphysischen Apriori zu verweigern und allein an die Beobachtung gesellschaftlicher Gegebenheiten zu halten. Er verurteilte im Besonderen, was er „individualistische Metaphysik“ nannte: Die Idee von subjektiven Rechten und Willensfreiheit. Genauso wenig wie es Rechte des Individuums gibt, kann es Rechte des Staates, respektive Souveränitätsrechte geben. Damit verwarf er jede Theorie, die dem Staat Rechtspersönlichkeit, ein subjektives Hoheitsrecht oder gar Rechtsetzungsmacht zuerkennt. Das Recht, dem seine Aufmerksamkeit galt, ist dementsprechend nicht positives Recht im Sinne eines von irgendeiner Autorität gesetzten Normenbestands. Ihn interessierte vielmehr das Recht, das spontan aus den Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens entsteht. Wie der Soziologe Émile Durkheim glaubte Duguit, dass am Ursprung der gesellschaftlichen Phänomene der Begriff der Solidarität steht: Die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen generiert einen „solidarischen Willen“. Dieser äußert sich in einem Korpus von Regeln, welche die Verhaltensweisen, die der gesellschaftlichen Wohlfahrt am förderlichsten sind, festlegen. Dem von ihm abgelehnten Subjektivismus stellte Duguit ein rein objektives Verständnis von Recht gegenüber. Daraus floss seine Definition des service public, die das Konzept der Souveränität als Fundament des öffentlichen Rechts ablösen sollte: Service public ist „jede Tätigkeit, die von den Regierenden [gouvernants] ausgeführt, geregelt und kontrolliert werden muss, weil sie unentbehrlich für die Herstellung und Entwicklung der sozialen Wechselbeziehungen ist und weil sie ihrer Natur nach nur von der regierenden Gewalt in Gänze erledigt werden kann“.[65] Die Regierenden müssen die Aufgabe erfüllen, die sich ihnen stellt. Wenn sie hierzu über materielle Macht verfügen, ist das nicht Ausdruck irgendeines subjektiven Rechts. Es handelt sich vielmehr um die Kehrseite der Pflicht, sich für den Ausbau des gesellschaftlichen Zusammenhalts einzusetzen. Der service public ist gleichzeitig Grundlage und Grenze ihrer Macht: Grundlage, weil alles vom objektiven Recht vorgesehen ist; Grenze, weil daraus folgt, dass jede Handlung der Regierenden ungültig ist, sobald sie ein anderes Ziel verfolgt als dasjenige des service public.[66] Ein solcher Verächter der „individualistischen Metaphysik“ sah sich natürlich dem Vorwurf ausgesetzt, seinerseits in Metaphysik zu verfallen. Wie kann ein Rechtssatz allein aufgrund eines persönlichen Gefühls verbindlich werden? Zu sagen, dass der service public versehen werden muss, reicht nicht, damit dies tatsächlich geschieht. Und was passiert, wenn der Staat das Recht verletzt? Vor allem aber: Was genau sind schlicht und ergreifend die services publics, also die Betätigungsfelder des service public, die unter die besagte Definition fallen?
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Entgegen der Einschätzung Duguits wäre es falsch zu glauben, dass Hauriou den service public aus seinen Überlegungen ausgeschlossen und nur der puissance public Beachtung geschenkt hat. Zunächst einmal war er sicherlich einer der ersten, die das Konzept des service public hervorgehoben haben, lange vor Duguit. Und selbst wenn er den Schwerpunkt auf die Handlungsformen legte und damit auf die hoheitlichen Vorrechte, hat er sie doch nie von den verfolgten Zielen, den zu erfüllenden services publics, isoliert. Er wollte mittels einer Institutionentheorie den Staat einhegen. Dieser ist seiner Ansicht nach eine „hergebrachte gesellschaftliche Organisationsform, die mit der allgemeinen Ordnung der Dinge zusammenhängt, deren Dauerhaftigkeit durch ein Kräftegleichgewicht oder durch Gewaltenteilung garantiert wird und die von sich aus einen Zustand der Rechtsherrschaft begründet“. Der Staat beginnt als „objektive Individualität“, als soziale Realität, die sich schrittweise herausbildet, eine Seinsordnung, die sich allmählich zur Sollensordnung umwandelt, ihre eigenen Regeln erzeugt und vor allem nach einer eigenen Persönlichkeit strebt.[67] Daher rührt im Verwaltungsrecht „der Aufstieg der Lehre von der Verwaltungsrechtspersönlichkeit“. Diese ausbauen heißt den Staat in den Maschen