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Das Ergebnis war ein „zweistimmiger Chor“, der das Hauptinstrument der institutionellen Verfestigung der Verwaltungsrechtswissenschaft im 20. Jahrhundert war. Einige Auseinandersetzungen erlangten bleibende Berühmtheit, wie „der Streit zwischen Dogmatismus und Empirismus“ Anfang der 1950er Jahre.[125] Auf Seiten des Conseil d’État hob Bernard Chenot die Notwendigkeit eines richterlichen Empirismus hervor, der sich von jeder Verbeugung vor theoretischen Konstruktionen freimachen müsse.[126] Seitens der Universität verfasste Jean Rivero eine „Apologie der Systembauer“.[127] Das Konzept des service public war Ausgangspunkt der Diskussion. Da es nicht als alleiniges Kriterium der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit angesehen werden konnte, blieb die altbekannte Abgrenzungsfrage weiter offen, ohne Aussicht auf eine überzeugende Antwort, und so war es letztlich wieder die Natur des Verwaltungsrechts selbst, die zur Debatte stand. Georges Vedels Ansicht haben wir bereits vorgestellt.[128] Ihr Siegeszug ging mit der Aufgabe der Vorstellung einher, dass es ein einziges Kompetenzkriterium geben müsse. Dies hat allerdings nichts daran geändert, dass weiterhin von einer Krise gesprochen wurde. „Seit über dreißig Jahren“, so konnte man vor mehr als zwanzig Jahren lesen,[129] „ist in der Literatur ‚Krise‘ die bevorzugte Beschreibung für den Zustand des Verwaltungsrechts, so dass man zu schreiben versucht sein könnte, die Krise sei die Ausdrucksform des Verwaltungsrechts.“ Da die Krisenrhetorik unterschiedslos auf das positive Recht wie auf die Rechtswissenschaft zu zielen scheint, drängt sich die Frage auf, wer genau sich eigentlich in der Krise befindet. Ist es nicht zuvörderst „eine intellektuelle Gemeinde, die es nicht mehr schafft, zu überzeugenden Erkenntnissen zu gelangen“?[130]
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Allen Krisendiskussionen zum Trotz scheint es um die Verwaltungsrechtswissenschaft, wenn auch mit einigen Höhen und Tiefen, ganz gut bestellt, jedenfalls wenn man dem Conseil d’État Glauben schenkt. Dessen Mitglieder selbst feiern die „Erneuerung des Verwaltungsprozesses innerhalb eines Zeitraums, der mit dem Gesetz vom 8. Februar 1995 begann“:[131] „Solchermaßen vom Gesetzgeber mit neuen und wirksameren Instrumenten ausgestattet, sah sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in gewisser Weise gestärkt.“[132] Dazu zeigt sich nun auf Seiten der Richter ein wahrhaft pädagogisches Anliegen: „Symptomatisch für diese neue Haltung sind die Urteile, die über den bloßen Streitgegenstand hinaus in vorbildlicher Weise den rechtlichen Rahmen einer Streitsache darlegen.“[133] Wo ihm vormals der elliptische Charakter seiner Urteile vorgehalten wurde, geriert sich der Conseil d’État im universitären Verständnis jetzt als „Systembauer“, auf die Gefahr hin, dass er in seinen allzu breiten Ausführungen Widersprüchlichkeiten zeigt, die ansonsten unbemerkt geblieben wären.[134] Wie immer ist der Richter am Conseil d’État guter Dinge, und er muss nur noch René Chapus mit der Feststellung zitieren, dass „in Frankreich heute nichts moderner [ist] als der Conseil d’État.“[135] Letzteres gilt gerade auch im Rahmen seiner gleichfalls „produktiven“ beratenden Funktion.
7. Das Verhältnis der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Praxis, insbesondere zur Rechtsprechung
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Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, wie es um die Beziehungen der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Rechtsprechung steht. Erstere entwickelt sich weiterhin, wie im 19. Jahrhundert, in einer Art Osmose mit der Zweiten, und das Ganze, so sehr es manchmal kritisiert werden mag, scheint doch von erheblicher Anpassungsfähigkeit. Insoweit spielt es keine Rolle, ob das Verwaltungsrecht Richterrecht ist, also im Wesentlichen aus richterrechtlichen Regeln besteht, oder nicht. Es steht in dem Ruf, ursprünglich ein solches gewesen zu sein, und man sagt, dies sei sogar eines seiner Hauptmerkmale, neben seinem Sonderrechtscharakter. In Wirklichkeit ändert die gegenwärtige Diversifizierung der Rechtsquellen gar nichts, war doch die Herkunft der Normen, genauso wie ihre Rechtsnatur, nie ein Definitionselement des Verwaltungsrechts. Natürlich wird die zweigleisige Gerichtsbarkeit herkömmlicherweise mit dem „Sonderrechtscharakter“ gerechtfertigt. Aber der Umstand, dass dieser schwächer wird, ändert nichts am „Bestand des theoretischen Rahmens“.[136] In einer näher bestimmten Reihe von Sachgebieten, die seinen Zuständigkeitsbereich ausmachen, wendet der Verwaltungsrichter, wenn er mit einem Rechtsstreit befasst ist, Regeln an, deren Gesamtheit das Ausgangsmaterial für die Verwaltungsrechtswissenschaft und die mit ihr verbundene Lehre liefert.
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Damit ist die permanente Infragestellung des zweigleisigen Gerichtssystems in keiner Weise aus der Welt,[137] zumal der Bedeutungswandel der Verwaltungsgerichte diese immer mehr in die Nähe der ordentlichen Gerichte rückt und damit, so man will, scheinbar ihrer Existenzberechtigung beraubt. Warum soll es innerhalb einer einheitlichen Rechtsordnung eine gesonderte Verwaltungsjustiz geben?[138] Im Rahmen seiner ausgeweiteten Befugnisse versichert sich der Conseil d’État seiner Legitimität, indem er in mancherlei Hinsicht an seine Gepflogenheiten aus dem 19. Jahrhundert anknüpft. So hat er sich unter der Dritten Republik, auf dem Weg zu einer vollwertigen gerichtlichen Institution, darauf beschränkt, die Rechtslage festzustellen, und es in Abwesenheit gesetzlicher Ermächtigungen vermieden, Rechtsakte umzudeuten oder richterliche Anordnungen gegenüber der Verwaltung zu treffen, was er zuvor noch mit großer Selbstverständlichkeit getan hatte.
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Als Hauptproblem könnte sich eher die Eigenständigkeit der Verwaltungsrechtswissenschaft erweisen.[139] Im zweistimmigen Chor der „richterlichen“ und der „universitären“ Doktrin fällt es Letzterer schwer, den nötigen Abstand zu gewinnen sowie ihr kritisches und innovatorisches Potenzial auszuschöpfen. Dies erklärt auch den Ruf nach einer anderen Verwaltungsrechtswissenschaft, die freilich wegen ihrer Theorielastigkeit gleichfalls umstritten ist: „Die etwa vierzig Jahre umfassende Zeitspanne, die man die Epoche der Theoretiker nennen könnte und die von Hauriou bis Bonnard reicht, ist wahrscheinlich eine vorübergehende historische Phase (vielleicht sogar eine bloße Episode), die damals zur Entfaltung der Disziplin notwendig war, heute aber nicht wiederholbar ist.“[140] Ein derartiger Ausdruck von Bescheidenheit kommt allerdings dem Eingeständnis einer gewissen Unfähigkeit gleich, eine Theorie zu entwerfen, die den tatsächlichen und vermuteten aktuellen Entwicklungen Rechnung trägt. Aber alles in allem, was weiß man schon in dieser Hinsicht?[141] Seit den 1970er Jahren hat man die Zeit des Vichy-Regimes „wiederentdeckt“, ein Extrembeispiel, das Anlass zu beständiger Wachsamkeit gibt: In der Folge eines Gesetzes von 1940, das einen besonderen Status für Juden eingeführt und diese von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen hatte, war es zu Gerichtsverfahren gekommen, in denen sich die Frage stellte, ob jemand Jude sei oder nicht. Es wurden verschiedene Kriterien des „Jüdischseins“ diskutiert und ein „Judenrecht“ gelehrt, als ginge es um irgendein Gebiet des Besonderen Verwaltungsrechts, mit einer von Fall zu Fall weiterentwickelten Dogmatik und in ausgesuchter juristischer Methodenstrenge.[142]
8. Die Verbreitungswege der Verwaltungsrechtswissenschaft
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Wenn es ein Symbol dafür gibt, wie die richterliche und die akademische Lehre gemeinsam für die Verbreitung der Verwaltungsrechtswissenschaft sorgen, dann ist es sicher die Publikation Grands arrêts de la jurisprudence administrative (GAJA).[143] Auf derselben Linie liegen die bei Dalloz erschienenen Entscheidungssammlungen Les grands avis du Conseil d’État