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Diese Konstruktion hat, abgesehen davon, dass sie eine fortwährende Debatte über die Definition des Verwaltungsrechts befeuert,[82] zur Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Besonderem Verwaltungsrecht geführt (droit administratif général, droit administratif spécialisé). Ersteres wird als das Grundgerüst angesehen, das es zuerst zu beherrschen gilt und dessen Kenntnis Voraussetzung für das Erlernen des Zweiten sein soll. Laut René Chapus umfasst es drei große Bereiche: den allgemeinen Verwaltungsaufbau, die Organisation und den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie schließlich die allgemeinen Handlungsinstrumente der Verwaltung, wie den öffentlichen Dienst (fonction public) und das öffentliche Eigentum (domaine public). Unter der Bezeichnung Besonderes Verwaltungsrecht firmieren dann die „dem allgemeinen Verwaltungsrecht entwachsenen Bereiche, die gleichwohl ihre enge Verbindung mit Ersterem bewahren.“„Es handelt sich insbesondere um das Recht der verschiedenen services publics, das öffentliche Wirtschaftsrecht, das Baurecht [droit de l’urbanisme] und das Raumordnungsrecht [droit de l’aménagement du territoire]“.[83]
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All diese Spezialgebiete, zu denen noch Spezialisierungen innerhalb des Allgemeinen Verwaltungsrechts hinzukommen, bewirken eine Vervielfachung des Angebots an universitären Lehrveranstaltungen. Insoweit dieses Phänomen von der Veröffentlichung von Lehrbüchern begleitet wird, zeigt sich darin durchaus eine „marktwirtschaftliche Logik, die zur Produktion juristischen Wissens eher in Form von Expertentum als in Richtung allgemeiner Theorie anreizt.“ Man beobachtet also eine technisch-anwendungsorientierte Spezialisierung, begleitet von „zunehmend bereichsspezifischer Literatur, die mit einer mehr und mehr spezialisierten Ausbildung korrespondiert.“[84] Klar ist aber, dass die Geschichte dieser Spezialgebiete eng mit derjenigen des Allgemeinen Verwaltungsrechts zusammenhängt. Zweifellos ist sie sogar einer der Schlüssel zu dessen Verständnis.[85]
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Das Beispiel des öffentlichen Wirtschaftsrechts ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Die ersten Lehrbücher beschäftigten sich mit der Planwirtschaft (économie administrée) nach 1945.[86] Das Rechtsgebiet umfasst Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht, Recht der öffentlichen Finanzen, das Recht der Europäischen Union und geht sogar über diese hinaus, schließt aber das Privatrecht nicht ein, was Anlass zu Diskussion gibt. Handelt es sich um ein „Wirtschaftsrecht“ in dem Sinne, wie von einem „Verwaltungsrecht“ gesprochen wird, mithin um ein eigenes Fach? Seine Spezifik ist nicht gerade evident. Demzufolge wurde die Auffassung vertreten, es handle sich eher um ein „öffentliches Recht der Wirtschaft (droit public de l’économie)“,[87] analog zu der Vorstellung vom „Recht der Verwaltung (droit de l’administration)“.[88] Pierre Delvolvé führt aus, es sei das Recht der staatlichen Intervention in den Bereich der Wirtschaft (droit de l’intervention publique en matière économique). Damit taucht allerdings ein neues Problem auf: Verweist der Begriff der „Intervention“ nicht auf eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie, den Interventionismus, als Gegenbegriff zum Liberalismus? Laut Martine Lombard wäre es deshalb besser, vom „Recht des öffentlichen Handelns im Bereich der Wirtschaft (droit de l’action publique en matière économique)“ zu sprechen, um jeder Verwechslungsgefahr mit dem „historisch überholten Konzept des Staatsinterventionismus“ vorzubeugen. Und noch eine letzte Abwandlung: Da staatliches Handeln mehr und mehr als „Regulierung“ begriffen wird, bürgert sich die Bezeichnung „öffentliches Recht der Wirtschaftsregulierung (droit public de la régulation économique)“[89] ein. Schon der Ausdruck selbst ist kontrovers, genauso wie seine genaue Bedeutung. Letztendlich verweist er auf das Recht als Ganzes, und der Jurist, jedenfalls sofern empfänglich für den soziologischen Diskurs und verwaltungswissenschaftlich interessiert, kann die rechtliche Regulierung als eine gesellschaftliche Regulierung unter anderen analysieren. So fährt Jacques Caillosse, nachdem er von der „rechtlichen Regulierung sozialer Interaktionen“ gesprochen hat, wie folgt fort: „[…], sofern man diesen Begriff gebrauchen möchte, um die Rolle des Rechts bei der Erzeugung und Perpetuierung des gesellschaftlichen Bandes zu charakterisieren“,[90] einen Begriff, der meilenweit entfernt sei von dem „alten juristischen Konstrukt, das weiterhin ‚Verwaltungsrecht‘ genannt wird, ganz so, als existierte es noch, während es doch mitten in einem Zerfallsprozess begriffen ist.“[91]
4. Das Verhältnis zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrechtswissenschaft
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Im Verlauf des 20. Jahrhunderts erschien das Verwaltungsrecht noch als eine klar vom Verfassungsrecht geschiedene Materie. Auch wenn schon länger ein Rückgang der beratenden Funktion des Conseil d’État zu verzeichnen war,[92] so ermöglichte erst der Bedeutungszuwachs des Verwaltungsprozesses in der Republik die Etablierung der Verwaltungsrechtswissenschaft als selbständige Disziplin, „aus soziologischem Blickwinkel als spezialisiertes Gebiet von Rechtsproduktion, das sich durch eine gewisse Kohäsion auszeichnet und eine zumindest relative Eigenständigkeit besitzt.“[93] Ohne Zweifel ist das Bild grob vereinfachend, wonach dem Verwaltungsrecht ein Verfassungsrecht ohne Richter gegenüberzustellen ist, mit einer Geschichte geprägt von Revolutionen, Regimewechseln und Verfassungsrechtlern, die, mit wenigen brillanten Ausnahmen, tendenziell das Recht vernachlässigten, um sich der Politikwissenschaft zuzuwenden. Es erlaubt aber zumindest die Schlussfolgerung, dass unter der Verfassung von 1958 in der Fünften Republik, insbesondere aufgrund der Einführung einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, ein Teil der Verfassungsrechtler begann, dem verwaltungsrechtlichen Vorbild zu folgen.[94] Die Verwaltungsrechtswissenschaft sah sich fortan mit einer Disziplin konfrontiert, die dazu neigt, die Idee einer „Konstitutionalisierung“ des gesamten Rechts zu propagieren, und die sich gelegentlich als die Königsdisziplin begreift. Auch wenn dies nur ein Element unter vielen ist, so wird daran doch „eine Abwertung des Verwaltungsrechts, auf normativer wie auf wissenschaftlicher Ebene“ festgemacht, ein „Absturz der Disziplin in der Hierarchie der Wissenschaften“.[95]
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Das hat Georges Vedel[96] nicht davon abgehalten, diese Entwicklung zu begrüßen. 1995 schrieb er: „Was wir seit ungefähr 30 Jahren erleben, in Grundzügen auch schon seit Inkrafttreten der Verfassung von 1958, ist die Vereinigung der beiden Rechtsgebiete. Die sprichwörtliche Kluft, die sie zu trennen schien, wurde überwunden und damit ein Begriff mit neuem Leben erfüllt, der Charles Eisenmann am Herzen lag: Das ‚öffentliche Recht‘.“[97] Ihm selbst, man kann es sich denken, war der Begriff ebenso wichtig. Bereits 1954 hatte er einen Artikel über „die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verwaltungsrechts“ veröffentlicht, den er mit der Erklärung begann, dass das Konzept des service public nicht der Eckpfeiler des Verwaltungsrecht sein konnte, weil es keine verfassungsrechtliche Grundlage aufwies: „Die Verfassung“, schrieb er, „ist die notwendige Grundlage der Regeln, die das Verwaltungsrecht bilden.“ Demgemäß gibt es in Frankreich „eine Verwaltung im Wortsinne, eine Herrschaft des Verwaltungsrechts und eine verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit nur, soweit es um eine Handlung geht, die materiell und formell in den Bereich der Exekutive fällt.“ Dabei versteht sich, dass die „ureigene Handlungsweise der Exekutive die Ausübung öffentlicher Gewalt [ist], das heißt von Befugnissen, die zwar außerordentlich weitreichend, aber gleichwohl inhaltlich determiniert sind.“[98] Ohne Zweifel ist dies immer noch die dominierende Vorstellung; jedenfalls findet man sie in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel der 1980er Jahre wieder, als Vedel zu dessen Mitgliedern zählte.[99]
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Vedel bezog sich auf Charles Eisenmann (1903–1980), einen Kollegen und Kritiker seines Aufsatzes von 1954. Eisenmann, Übersetzer und kritischer Schüler von Hans Kelsen, war „auf der Suche nach der Wissenschaft des Rechts“,[100] und eine weitere prägende Gestalt des 20. Jahrhunderts. „Das Verfassungsrecht“, schrieb er 1972, „sagt absolut nichts über die Grundlagen des Verwaltungsrechts“. Es enthält keinen Hinweis auf den Begriff der „Verwaltung“ oder des „Verwaltungsrechts“.[101]