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II. Die Verwaltungsrechtswissenschaft der Gegenwart (seit 1873)
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Auf die erste Blüte folgen die Früchte, „die Entfaltung einer Wissenschaft vom Verwaltungsrecht“, „das Zeitalter der Kathedralen“, kurzum, eine Zeit, die in deutlichem Kontrast zu der von Ungewissheit geprägten Gegenwart des 21. Jahrhunderts steht.[44] Es setzt sich mit der Dritten Republik eine Konzeption des Verwaltungsrechts durch, die sich in die Linie des Vorangegangenen einreiht und zugleich einen fundamentalen Bruch markiert. Sie bleibt im Wesentlichen das Werk der Mitglieder des Conseil d’État und ihrer, wenn man diesen Begriff hier gebrauchen will, wissenschaftlichen Betätigung, was dem Verwaltungsrechtsverständnis Kontinuität verleiht (1). Verwaltungsrecht ist das Recht der Verwaltung; jedoch erfasst diese Definition den Begriff, wie wir sehen werden, nicht vollständig. Es stellen sich Fragen, die mangels gesicherter Antworten immer noch aktuell sind, Fragen also, die aus dem späten 19. Jahrhundert stammen und die es im beginnenden 21. Jahrhundert zu beantworten gilt. Diese Fragen konnten jedoch seit Anfang des 20. Jahrhunderts in einem grundlegend veränderten Rahmen formuliert werden, dank der allgemeinen Theorien des öffentlichen Rechts jener Epoche (2).
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1873 kann als Schlüsseljahr gelten. Es ergeht das Blanco-Urteil des Tribunal des conflits, das gerade erst durch das Gesetz vom 24. Mai 1872 geschaffen worden war, um Kompetenzstreitigkeiten zwischen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit beizulegen.[45] Von diesem Urteil wird gesagt, es habe mit der folgenden Erwägung die Eigenständigkeit des Verwaltungsrechts postuliert: „Die Haftung, die dem Staat für Schäden obliegen kann, welche dem Einzelnen durch Handlungen von Personen entstehen, die im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, kann sich nicht nach den Grundsätzen richten, die im Code Civil für das Verhältnis unter Privaten festgelegt sind.“[46] Freilich handelt es sich dabei um späten Ruhm; seine Zeitgenossen haben von dem Urteil keine Notiz genommen. Und wenn es dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit erfahren sollte, so konnte man doch schon vor 50 Jahren lesen, dass es, „was die Definition des Verwaltungsrechts auf dem Wege der Kompetenzabgrenzung zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit anbelangt, völlig in der Kontinuität der vorangegangenen Rechtsprechung [steht]“.[47] Dies war freilich kein Hinderungsgrund dafür, dass das Urteil in einer kurz danach erschienenen Sammlung „bedeutender Rechtsprechung“[48] an prominenter Stelle geführt wurde. Warum gerade dieses? Warum nicht die Rothschild-Entscheidung des Conseil d’État vom 6. Dezember 1855? „Weil Letztere von einem nicht-richterlichen und obendrein nicht gerade liberalen Organ stammt. Hingegen erging die Entscheidung des Tribunal des conflits unter den Rahmenbedingungen des Gesetzes vom 24. Mai 1872, das Grundlage für die Einrichtung und Verwurzelung des Conseil d’État in der Republik war.“[49] Man befindet sich also 1873 am Scheideweg zweier Lesarten der Geschichte, derjenigen der Rechtshistoriker[50] auf der einen Seite und derjenigen der Verwaltungsrechtswissenschaft und -lehre, die dem Bedürfnis nach einem disziplinären Gründungsmythos nachkam, auf der anderen. Nach der ersten Lesart kommt dem Blanco-Urteil nur ein bescheidener Stellenwert in einer gleichwohl entscheidenden Zeit zu. Nach der zweiten markiert das Urteil einen Anfang,[51] ein Schlüsselereignis, das stets in Erinnerung zu rufen ist. Entsprechend sind viele Studenten der Rechtswissenschaften kaum von der Idee abzubringen, jede Arbeit im Verwaltungsrecht, ganz gleich welcher Art und zu welchem Thema, müsse das Urteil zitieren.
1. Neuerungen in der Wissenschaft und Wandel des Verwaltungsrechts
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Die prägenden Gestalten zum Ende des Zweiten Kaiserreichs und zum Anfang der Dritten Republik waren Léon Aucoc (1828–1910) und Edouard Laferrière (1841–1901). Aucoc, der seit 1869 conseiller d’État war, stieg schon 1872 zum président de section der Baurechtskammer auf. Laferrière, überzeugter Republikaner und Gegner der Kaiserherrschaft, begann seine Karriere dort 1870 und beendete sie mit der Vizepräsidentschaft 1886 bis 1898. Beide waren ohne Zweifel eifrige Fürsprecher dieser Institution und haben, wie ihre bereits erwähnten Vorgänger, bedeutende Studien veröffentlicht. Aucoc verdanken wir die dreibändigen Conférences sur l’administration et le droit administratif (1869), ein Werk, das auf viel Interesse stieß, aber dennoch von Laferrières 1888 in zwei Bänden erschienenem Traité de la juridiction administrative et des recours contentieux in den Schatten gestellt wurde (wobei Letzterer seinem Vorgänger viel verdankt).[52]
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Laferrière entwickelte eine Lehre des Verwaltungshandelns, welche die Unterscheidung zwischen den hoheitlich-anordnenden actes de puissance public und den actes de gestion präzisiert. Diese Dichotomie bestimmt seines Erachtens auch die Zuweisung der gerichtlichen Zuständigkeiten: „Streitigkeiten, die einen acte de puissance publique zum Gegenstand haben, sind ihrer Natur nach verwaltungsrechtlich, Streitigkeiten über die actes de gestion sind es nur aufgrund gesetzlicher Anordnung.“[53] Diese Unterscheidung ist nicht nur der Schlüssel für die Kompetenzzuweisung, sie ist auch Grundlage für die Aufteilung der Rechtsstreitigkeiten in zwei große Felder: Umfassende Rechtskontrolle (pleine juridiction) wird gegenüber den actes de gestion ausgeübt, wohingegen die actes de puissance publique normalerweise nur einer Nichtigkeitsklage unterliegen. Dies ist heute noch Grundgedanke des recours pour excès de pouvoir. Selbst wenn man aufgrund jüngerer Entwicklungen über dessen Einzelheiten diskutieren kann,[54] bleibt er doch ein zentraler Pfeiler des französischen Verwaltungsprozessrechts, aber eben auch eine Eigentümlichkeit: Es geht ausschließlich um die Aufhebung eines Akts aufgrund seiner Rechtswidrigkeit, wegen Verletzung einer Rechtsvorschrift, die sein Urheber beachten musste. Der objektive Charakter dieser Klageart ermöglichte es dem Conseil d’État, eine die Verwaltung bindende Rechtsordnung zu entwerfen und zu systematisieren. Dabei drängte sich freilich die Frage auf, ob es ihm nicht mehr um die Wiederherstellung einer rechtmäßigen Verwaltung als um den Schutz des Einzelnen ging, der keine individuellen Rechte geltend machen konnte und so immer nur Verwaltungsunterworfener (administré) blieb. Das Werk Laferrières stärkt den prozessrechtlichen Zugang zum Verwaltungsrecht und bedeutet so einen „Bruch mit dem damaligen Rechtsdenken“:[55] Laferrière, durch und durch Anhänger der Republik und Liberaler, drängte den Begriff des Verwaltungsakts, der sich auf dessen Funktion der Gesetzeskonkretisierung stützt, in den Hintergrund; er begriff die Verwaltung vom Rechtsschutz her.[56]
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Mehr denn je stellte sich nun die Frage nach der Abgrenzung der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit gegenüber dem Privatrecht und der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Maurice Hauriou,[57] der sich zunächst der Idee eines auf hoheitlich-anordnende Akte beschränkten Verwaltungsrechtswegs verschrieben hatte, veröffentlichte im Jahre 1899 La gestion administrative – Etude théorique de droit administratif und bezog darin eine ganz neue Position: Auch im nicht-hoheitlichen Handeln, so Hauriou, manifestiere sich die öffentliche Gewalt; sie sei „gar die treibende Kraft der öffentlichen Daseinsvorsorge“. Das schließt auch Verträge zwischen Verwaltung und Bürger ein, bei denen sich eben keine Situation grundsätzlicher Gleichheit findet, wie sie charakteristisch für private