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So wie Dareste sie verstand, war die „Wissenschaft vom Verwaltungsrecht“ eine technische Angelegenheit, die darin bestand, Fachwissen zu verbreiten und eine vernünftige Ordnung einzuführen, wo es bisher nur verstreute Verwaltungsmaterien gab. Diejenigen „Techniker“, die unmittelbar in die Aktivitäten des Conseil d’État involviert waren, haben sicher gleichermaßen, wenn nicht sogar stärker durch ihre Teilnahme an dessen Beratungen als durch ihre wissenschaftlichen Veröffentlichungen Einfluss ausgeübt. Sie erfüllten ihre oben genannte Aufgabe, indem sie, quasi bei Gelegenheit, die Idee einer notwendigen Rechtsbindung der öffentlichen Verwaltung etablierten. Was das Œuvre der Jurisprudenz anbelangt, fällt eine Gesamtbilanz in wenigen Worten schwer. Jedenfalls ist seine Geschichte untrennbar mit der institutionellen Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit selbst verbunden. Ohne die Windungen und Wendungen in ihrem Verlauf nachzuzeichnen, kann man zumindest feststellen, dass sich die Rechtsprechung jener Zeit stark am zivilrechtlichen Paradigma orientierte, was zusammen mit dem vorherrschenden Liberalismus zu einer Fokussierung auf den Schutz individueller Rechte führte. Aus dieser Perspektive ging es weniger darum, die auf die Verwaltung anwendbaren Regeln zu identifizieren, als vielmehr die Fälle zu erfassen, in denen ihre Tätigkeit die Rechte Einzelner berührt: „Gefangen in ihrem abwehrrechtlichen Paradigma können Conseil d’État und Lehre den Verwaltungsakt nicht eigenständig definieren. Besessen von der sakrosankten Unabhängigkeit des Verwaltungshandelns gegenüber den Gerichten verinnerlichen sie erst das Prinzip des gerichtsfreien ‚reinen‘ Verwaltungshandelns [pure administration], um dann ex negativo den Bereich des gerichtlich überprüfbaren Verwaltungshandelns zu umschreiben. Dies geschieht dann auf indirekte Weise, weil nicht die Handlung der Verwaltung, sondern die Beeinträchtigung der Klägerrechte als Ansatzpunkt dient.“ Dabei steht die Entschädigung des Klägers im Vordergrund und weniger die Sanktion unrechtmäßigen Handelns.[36] Man muss freilich präzisierend hinzufügen, dass schon sehr früh Akte der pure administration wegen Kompetenzüberschreitung (excès de pouvoir) gerichtlich aufgehoben werden konnten.[37] Auf diesem Wege setzte der Conseil d’État nach und nach eine „objektive Rechtsbindung“ durch. So kam es vom Zweiten Kaiserreich an zu einer „Explosion der Nichtigkeitsklagen [recours pour excès de pouvoir]“: Angesichts eines autoritären Regimes „sah sich der Conseil d’État gezwungen, den Kreis der zulässigen Klagen auszuweiten“.[38]
c) Die bedeutenden Schriften
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Mit dem Projekt, die geltenden Gesetze zu systematisieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist zuvorderst der Name Joseph-Marie de Gérando (1772–1842) verbunden. Seit dem Kaiserreich Mitglied des Conseil d’État, erhielt er den Lehrauftrag für die 1819 an der rechtswissenschaftlichen Fakultät in Paris eingeführte „Vorlesung zum geltenden öffentlichen Recht und Verwaltungsrecht“. 1822 wurde die Vorlesung gestrichen, 1829 jedoch erneut von de Gérando übernommen, zeitgleich zum Erscheinen seines vierbändigen Hauptwerks Institutes de droit administratif. Éléments du Code administratif réunis et mis en ordre par M. le baron de Gérando. De Gérando gehörte noch zu denjenigen, die wie Delamare der Geschichte einen großen Stellenwert beimaßen und sich bemühten, aus dem Dickicht der Gesetzgebung die großen Prinzipien herauszuarbeiten. Von bleibendem Einfluss ist insbesondere seine Unterscheidung zwischen administration discrétionnaire, administration délibérative, administration contentieuse und administration agissant comme simple individu. Im ersten Fall verfolgt die Verwaltung das ihr anvertraute öffentliche Interesse ohne in potenziellen Konflikt mit einem Individualinteresse zu geraten (Ernennung von Beamten, Rekrutierung der Sicherheitskräfte). Im zweiten Fall werden private Interessen berührt, die allerdings noch nicht zum Ansatz eines Rechts erstarkt sind (Kommunalaufsicht, öffentliche Fürsorge). In der dritten Kategorie trifft sie auf eine Art wohlerworbener Rechte, die Inhaberschaft und Ausübung voraussetzen. Im letzten Fall tritt die Verwaltung wie eine Privatperson auf und ist daher wie eine solche der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterworfen. Hier sind also schon die oben erläuterten Charakteristika erkennbar: Die Anknüpfung an die Verwaltung (die Ermessensfreiheit genießen oder aber rechtlich gebunden sein kann), der zivilrechtliche Blickwinkel, der von dem Bemühen um Individualrechtsschutz begleitet wird, und schließlich ein Staat, der offensichtlich auch als Privatperson auftreten kann.
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Der erste große Pionier der Beschäftigung mit der Rechtsprechung des Conseil d’État war Louis Antoine Macarel (1790–1851), der schon 1818 seine Éléments de la jurisprudence administrative veröffentlichte. Er wurde erst nach der Julirevolution von 1830 in den Conseil d’État aufgenommen, war jedoch vorher lange Zeit als Anwalt dort tätig. Nach ihm machte sich Louis Marie de Cormenin (1788–1868) mit seinen Questions de droit administratif von 1822 einen Namen. Seine Karriere ist bewegter als die von Macarel; so verhinderte seine Opposition gegenüber der Juli-Monarchie für diese Zeit eine Tätigkeit am Conseil d’État (gleichwohl war er Mitglied dieses Kollegiums im Ersten Kaiserreich, während der Restauration, in der Zweiten Republik und im Zweiten Kaiserreich). Sein Werk ist „nicht nur ein alphabetisches Kompendium [...]. Cormenin steht am Anfang jener ersten großen Strömung in der Lehre, die man als die liberale Verwaltungsrechtstheorie bezeichnen könnte und die auf der Grundlage subjektiver Rechte des Einzelnen gegenüber der Verwaltung fußt.“[39] Was zählt, ist weniger die Ausgestaltung einer objektiven Legalitätskontrolle, als vielmehr eine Verbesserung der rechtlichen Stellung des Einzelnen.[40]
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Aus dem universitären Umfeld sind zu nennen Emile-Victor Foucart (1799–1860) in Poitiers, Firmin Laferrière (1798–1861) in Rennes, Adolphe Chauveau (1802–1868) in Toulouse und Denis Serrigny (1800–1876) in Dijon. Ersterer, Verfasser eines 1844 veröffentlichten Précis de droit public et administratif, bestätigte den bereits erwähnten vorherrschenden Trend. Bestrebt die staatlichen Befugnisse zu begrenzen, suchte er die Anbindung des Verwaltungsrechts an die Lehre der individuellen Freiheitsrechte, indem er es als Beschränkung der Letzteren auffasst. Aus dieser Perspektive sah er in der Enteignung nicht nur einen Verwaltungsvorgang, sondern eben auch die Einschränkung des individuellen Eigentumsrechts.[41] Gleichwohl wird seinen Zeitgenossen im Allgemeinen kein besonders kritischer Blick auf die Rechtsprechung nachgesagt. François Burdeau hält Chauveau für die Ausnahme und resümiert anschließend: „Serrigny ist sehr viel repräsentativer für die allgemeine Haltung in der Bewunderung, die er für die höchstrichterliche Rechtsprechung hegt, während er sich gleichzeitig gegenüber einer als unfähig und träge empfundenen Bürokratie unnachgiebig zeigt.“[42] Bleibt zu erwähnen, dass es weder den Praktikern noch den Akademikern gelungen ist zu verhindern, dass das „frühe Verwaltungsrecht“ in ebenso viele Einzelgebiete zerfiel, wie es Handlungsbereiche der Verwaltung gab: „Es ist nun einmal so, dass in den Augen der ersten Verwaltungsrechtler die Verwaltung, außerhalb ihrer fiskalischen Betätigung, Trägerin öffentlicher Gewalt und nicht die materialisierte Rechtspersönlichkeit des Staates ist.“[43] Alles was die Verwaltungsrechtler seinerzeit letztlich tun konnten, war, die einzelnen Handlungsbereiche zu studieren, in denen die Verwaltung mit privaten Rechten in Berührung kam. Dieses Bild ist freilich unvollständig, wurde doch der in der Tradition Bonnins