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Grundlage der Europäisierung des Verwaltungsrechts bildet die mit dem supranationalen Charakter des Gemeinschaftsrechts verbundene unmittelbare Wirkung auch für und gegen den Einzelnen sowie sein Anwendungs-, nicht Geltungsvorrang gegenüber kollidierendem nationalen Recht, wobei der aus dem Völkerrecht übernommene effet-utile-Grundsatz dem Gemeinschaftsrecht auch in Fällen indirekter Kollision Vorfahrt gegenüber wirksamkeitshinderndem mitgliedstaatlichen Recht verschafft.[236] Der EuGH hat sich durch die Ausbildung dieser Rechtsinstitute Einwirkungsinstrumente geschliffen, die die deutsche Literatur grundsätzlich anerkennt, wenn auch in der eher verfassungsrechtlich und rechtstheoretisch bestimmten Diskussion unterschiedlich begründet, sei es im Sinne einer autonomen Geltung des Europarechts oder sei es mit Hilfe eines zwischengeschalteten staatlichen Rechtsanwendungsbefehls.[237] Die eigentlichen verwaltungsrechtlichen Konfliktlinien verlaufen entlang der Fragen der Reichweite des den Primat vermittelnden Effektivitäts- und Kohärenzarguments, um nationales Verwaltungsrecht auszuhebeln oder umzuformen, das keine innere Begrenzung in sich trägt.[238] Insbesondere das reduktionistische funktionale Verständnis prinzipiell begrenzungstauglicher individueller Rechtspositionen zugunsten der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsinteresses stößt auf Kritik, wie überhaupt gegen die „Eindimensionalität des Gemeinschaftsrechts“ der „Doppelauftrag des Verwaltungsrechts“ in Stellung gebracht wird, neben der Handlungsfähigkeit auch die Garantie eigenwertigen Rechtsschutzes zu gewährleisten.[239] Dass das „Gebot eines möglichst einheitlichen Vollzuges des EG-Rechts“ das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht nicht dominieren kann, sondern dass „jede Verwaltungsrechtsordnung zuallererst eine materielle Rechtsverhältnisordnung zwischen Bürger und Verwaltung“ darstellt, findet sich auch im Rahmen systembildender Bemühungen um ein genuin Europäisches Verwaltungsrecht betont.[240]
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Konsens besteht über den „Modernisierungsschub“, den die Europäisierung dem deutschen Verwaltungsrecht jenseits kritischer Auseinandersetzungen im Einzelnen letztlich gebracht hat, zunächst in normativer Hinsicht, denkt man an die Kodifikationen im Bereich des Kommunalwahlrechts, der Umweltverträglichkeitsprüfung, des Umweltinformationsrechts sowie der Informationsfreiheit der Verwaltungsöffentlichkeit insgesamt.[241] Zu den rechtsdogmatischen Innovationsfeldern zählt unbestreitbar das Staatshaftungsrecht, das bei ausstehender Kodifikation einen tiefgreifenden Gestaltwandel erfahren hat, sowie das Privatisierungsfolgen- und Regulierungsverwaltungsrecht. Kräftige Impulse erhalten haben darüber hinaus die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, die Dogmatik der Entscheidungsspielräume der Verwaltung auf der Tatbestands- wie Rechtsfolgenseite des Gesetzes, die Grundfrage außenrechtswirksamer sog. normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften, die der EuGH nicht zur Umsetzung von EG-Richtlinien tauglich erachtet, die Verhältnisbestimmung zwischen Privat- und Verwaltungsrecht sowie das Grundverständnis des Verwaltungsverfahrens, das sich entgegen gesetzgeberischen Beschleunigungstendenzen aufgewertet sieht.[242] Auf der Gewinnseite wird schließlich die Bedeutungszunahme der Rechtsvergleichung verbucht,[243] die in einem Wettbewerb der Rechtssysteme verortet ist, aus denen der europäische Gesetzgeber und Richter jeweils zentrale Einspeisungen vornimmt. Nicht introvertierte Selbstbespiegelung erlittener Einbußen, sondern aktiver Export entsprechend aufbereiteter Dogmatik wird auf diesem Gebiet angemahnt.[244] Ebenso steht der Nutzen informierter Importe von gesetzgeberischen und dogmatischen Anregungen grundsätzlich außer Frage. Insgesamt hat die deutsche Verwaltungsrechtslehre sich vergleichsweise früher als die Verfassungsrechtswissenschaft den mit der Europäisierung einhergehenden Herausforderungen in ihrer ganzen Breite und Tiefe gestellt,[245] geleitet wohl von der ebenso pragmatisch formulierten wie unprätentiös aufgenommenen Einschätzung einer mangelnden Alternative.[246]
2. Entstehung einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Verwaltungsverbund
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Die Verwaltungsrechtswissenschaft steht im Begriff, nun auch den Horizont der Europäisierung eines national radizierten Verwaltungsrechts zu übersteigen. In den Blick geraten ist die „Entwicklung eines Europäischen Verwaltungsrechts“ in Form einer „mehrschichtigen Verwaltungsrechtsordnung“, bestehend aus dem mitgliedstaatlichen Verwaltungsrecht, dem Eigenverwaltungsrecht der Europäischen Union, dem auf die Mitgliedstaaten einwirkenden „Gemeinschafts-" bzw. „Unionsverwaltungsrecht“ und schließlich dem Verwaltungskooperationsrecht, das die vertikale Zusammenarbeit zwischen nationalen und europäischen Verwaltungsstellen sowie die horizontale Kooperation zwischen den nationalen Verwaltungen umgreift.[247] Für die den mitgliedstaatlichen Verwaltungen und der europäischen Administration „gemeinsam“ anvertraute „Verwaltung des Gemeinschaftsraumes“, in dem sich ein „Informations-, Handlungs- und Kontrollverbund“ entwickelt habe,[248] wird der „metaphorische Begriff des Europäischen Verwaltungsverbundes“ als „Korrelat“ zum Begriff des Europäischen Verfassungsverbundes vorgeschlagen, der zugleich bemüht wird, um die schwerwiegenden Legitimationsprobleme zu lösen.[249] Der Vorschlag nimmt bestehende Ansätze zur bündischen Struktur der Union als „Integrationsverbund“[250] in der Konkretion einer „administrativen Föderalisierung“[251] auf. Die geäußerte Mahnung, „vielleicht“ nicht so weit zu gehen, die nationalen Verwaltungen schon deshalb, weil sie Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht vollziehen „in Bausch und Bogen zur ‚Gemeinschaftsverwaltung‘ (im funktionalen Sinne)“ zu rechnen,[252] lässt sich erst recht gegen diesen theoretischen Beschreibungsversuch erheben. Immerhin löst die Verbundmetapher aber die Perspektive vom überkommenen Vollzugsmodell ab und bezieht integrativ den immer bedeutsamer werdenden Bereich administrativer Verbundstrukturen in die Betrachtung ein. Jenseits der überholten dualen Unterscheidung von hier direktem, gemeinschaftsunmittelbaren und dort indirektem, mitgliedstaatlichen Vollzug des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts hat sich eine Wirklichkeit von Kommunikationsverbünden, Kooperationsnetzwerken unter Einbeziehung zahlreicher europäischer Ämter und Agenturen etabliert, die eine sozialwissenschaftlich offene Verwaltungsrechtsdogmatik nicht übergehen kann.[253] Gerade in diesem Bereich bedarf es der Transparenz und Verantwortungsklarheit, der juristischen Zurechnung und des angepassten Rechtsschutzes, und kulminiert das Legitimationsproblem, dem mit Hilfe eines Denkens in „Legitimationsketten“ nur sehr begrenzt Rechnung getragen werden kann.[254] In Anpassung an gegebene Realitäten wird ein „Pluralismus der Legitimationsquellen“ verfochten, der auf der Input-Seite auch partizipative wie deliberative Elemente einbezieht und zudem leistungs- und akzeptanzbezogen auf den administrativen Output abstellt.[255] Eine spezifische Verbundstruktur bezeichnet das Transnationalitätsmodell, das die gemeinschaftsweite Wirkung nationaler Entscheidungen auf Grund von Unionsrecht erfasst, wie sie sich etwa in Teilen des Lebensmittelrechts findet. Der transnationale Verwaltungsakt bildet dabei eine Schnittstelle zum derzeit neu belebten internationalen Verwaltungsrecht, was einen wissenschaftlichen Abgleich der entsprechenden Entwicklungen wie Zusammenhänge nahelegt.[256] Der hier zu verzeichnende Trend hin zu einer Theorie der „Global Governance“[257] korrespondiert mit der Konjunktur des inzwischen schon populären Theorems im innerstaatlichen wie europäischen Verwaltungsrecht.[258] Im europäischen Kontext kann allerdings von einer „governance without government“ aus strukturellen Gründen nicht die Rede sein, nicht zuletzt auch wegen eines „hinter dem ‚Governance‘-Projekt der Kommission“ zuweilen sichtbar werdenden „etatistischen Machtanspruchs“.[259] Um so dringlicher erscheint die Formierung einer wirklich europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft, die gerade auf Grund ihrer vielfältigen, auch rechtskulturellen Ausgangspunkte dazu berufen wäre, eine dem Verdacht nationaler Interessendurchsetzung enthobene Kritik und ausgewogene Gestaltungsvorschläge