»Wir könnten uns nach den Feiertagen zusammensetzen -«
»Die Zeit verrinnt. Ich verstehe nicht, warum wir sie verschwenden sollten.«
»Du benimmst dich nicht, wie es der Ersten der Bruderschaft zusteht.«
Eva starrte ihren Vater an. »Ich habe diese Position nicht haben wollen. Nur weil du zufällig der Mann bist, der meine Mutter geschwängert hat, wurde ich in dieses Spielchen hineingezogen. Ich habe dir gesagt, dass ich keine Ahnung habe, was von mir erwartet wird. Ich mache das alles nur für Jul.«
Die Luft war aufgeladen mit Emotionen. Eva selbst empfand nur Wut. Ihr Dad strömte stoische Ruhe aber auch Verärgerung aufgrund ihrer Ungeduld aus. Jul machte sich Vorwürfe, fühlte sich schlecht, weil sie so unglücklich zu sein schien. Dabei würde sie alles noch einmal so machen, wenn er nur bei ihr bliebe.
All diese Gefühle wurden von der Macht in Eva angesaugt wie ein Magnet. Sie war diesen Emotionen hilflos ausgeliefert. Nur langsam lernte sie, diesen Rausch zu kontrollieren.
Eva schüttelte den Kopf. An Weihnachten stritt man nicht. Niemand konnte sagen, wie oft sie den Weihnachtsabend noch mit Jul verbringen durfte. Die Erinnerung an ihr erstes gemeinsames Weihnachten sollte nicht von Unstimmigkeiten getrübt werden. Aber nach der überraschenden Erkenntnis, dass ihr Vater am Leben war, wollte sie ihre Familie dabeihaben. »Verschieben wir das auf ein andermal.«
»Gute Idee«, meinte Jul, dessen Anspannung sichtbar nachließ. »Sei brav und folge der Bitte deines Daddys. Schau dir deine Geschenke an.«
Das Aufblitzen von Schalk in seinen Augen brachte ihr Herz zum Klopfen. Sie trug die Verantwortung für seine Genesung. Keine Aufregungen mehr. »Mit welchem soll ich anfangen?«
»Beginn mit dem Kleinsten«, meinte er mit einem Lachen in der Stimme.
Eva ging zum Christbaum, unter dem drei Päckchen lagen. Das Kleinste also. Die Schachtel war groß genug für ein Schmuckstück, eine Kette … oder vielleicht einen Ring. Ihr Herz pochte gegen ihre Rippen. Sie ließ sich Zeit mit dem Öffnen. Ihr Blick wanderte von dem Geschenk in ihrer Hand zu Jul. Wann würde er sie fragen? Bevor sie den Deckel anhob oder danach?
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, damit er sich nur noch hinknien musste. Er sollte sich in seinem geschwächten Zustand nicht anstrengen müssen. Dann klappte sie die Schachtel auf.
Kein Ring.
Stattdessen eine Goldkette samt Anhänger. Das Muster sah aus wie verknotete Seile. Offensichtlich ein sehr altes Schmuckstück. Vielleicht gotisch oder … Ach, wem machte sie etwas vor? Sie hatte keine Ahnung von Kunst, wusste nur, dass der Anblick ihr Herz berührte. Stellte der Anhänger einen unendlichen Knoten dar, der für seine nie endende Liebe stehen sollte? Dieses Geschenk hatte unzweifelhaft einen vielfach höheren symbolischen als materiellen Wert. Die Enttäuschung darüber, dass das Geschenk nichts mit einem Heiratsantrag zu tun hatte, verschwand. »Es ist wunderschön.«
»Es handelt sich um einen Anhänger meiner Mutter, den einzigen Schmuck, den mein Vater ihr geschenkt hat. Ich habe ihn vergolden lassen.«
»O Jul! Ich weiß nicht, ob ich …«
»Keine außer dir. Ich habe eigens für dich einen zusätzlichen Teil anfertigen lassen.«
Eva schob den Knoten zur Seite. Darunter eine einfache, ovale Goldplatte. Das ganze Schmuckstück hatte ungefähr die Größe einer Streichholzschachtel.
»Dreh den Anhänger um.«
Sie folgte seiner Aufforderung und entdeckte auf der Rückseite der Platte eine dünne, sanft geschwungene Inschrift:
»Ich will’s dem blauen Himmel sagen,
Ich will’s der dunklen Nacht vertrau’n,
Ich will’s als frohe Botschaft tragen,
Auf Bergeshöh’n, durch Heid und Au’n.
Die ganze Welt soll Zeuge sein:
Ja, du bist mein!
Und ewig mein!«
In Evas Augen brannten Tränen der Freude und der Rührung. Ein persönlicheres Geschenk hätte Jul ihr nicht machen können.
»Als ich das erste Mal diese Worte von Hoffmann von Fallersleben gelesen habe, hätte ich nicht für möglich gehalten, dass ich jemals so für eine Frau empfinden würde.«
Der Schwur auf dem Schmuckstück war genauso gut wie ein Gelübde vor dem Standesbeamten. Eva setzte sich auf Juls Schoß und legte ihm die Arme um den Hals. »Vielen Dank.«
Juls Lachen klang heiser. Als sich ein leiser Schmerzenslaut daruntermischte, rückte Eva von ihm ab. »Du hättest mich beinahe erdrückt«, beschwerte er sich.
»Aber nur mit meiner Liebe.«
»Wenn ich einmal sterben muss, dann will ich es auf genau diese Art und Weise.«
Eva legte ihren Zeigefinger auf seine Unterlippe. »Sprich heute nicht vom Sterben. Die Gefahr soll bis morgen warten.«
»Dann mach das Nächste auf«, murmelte Jul.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Zuerst kommt das Geschenk für … Anun.« Sie blickte zu ihrem Vater. Er schien von dem Schauspiel, das Jul und Eva ihm boten, amüsiert. Kurzfristig ein passendes Präsent für ihren Vater zu finden, hatte ihr einige Kopfschmerzen beschert. Sie holte das Päckchen zwischen den anderen Geschenken hervor und reichte es ihm.
»Es ist nur eine Kleinigkeit. Ich habe nicht mit dir …« Sie räusperte sich. »Ich hoffe, es gefällt dir.« Nachdem sie wieder auf Juls Sessellehne Platz genommen hatte, beobachtete sie, wie ihr Vater an dem Papier zog. Wenige Sekunden später hatte er den Bilderrahmen ausgewickelt.
»Du und deine Mutter«, murmelte Anun.
»Ich war ungefähr ein halbes Jahr alt. Mama hat einen Fotografen beauftragt.«
»Ein wunderschönes Bild.« Anun hob den Blick. »Und ein wundervolles Geschenk. Du bist das größte Geschenk, das ich jemals erhalten habe.«
Die Zuneigung in seinen Augen war eine Offenbarung. Vatergefühle. Sie hatte lange Zeit daran gezweifelt, dass er etwas Ähnliches für sie empfinden könnte. »Meine Entscheidung war nur das Foto«, meinte Eva mit einem unsicheren Lachen. »Vielleicht ergibt sich bald die Gelegenheit für ein aktuelles Familienfoto … Jul durfte noch kein Päckchen öffnen.«
»Es ist also nicht nur mir aufgefallen«, meldete sich Jul zu Wort. »Her mit den Geschenken.«
Eva lachte und holte das Päckchen für ihn. »Ich dachte, wir würden uns nichts Großes schenken, deshalb …«
»Wenn die Falten von deiner Stirn verschwinden würden, wäre ich darüber glücklicher als über einen Ferrari.« Er riss das Geschenkpapier auf. »Eine Kleinigkeit also«, meinte er kopfschüttelnd und hielt den Fossil Chronographen in die Höhe, den er beim letzten Schaufensterbummel bewundert hatte. Der Preis hatte für Eva keine Rolle gespielt.
»Neben deinem Anhänger stinkt ohnehin alles andere ab.« Das Strahlen seiner Augen brachte sie zum Lächeln. Sie hatte die richtige Wahl getroffen. Sie beobachtete, wie Jul die Uhr anlegte und sein Armgelenk drehte.
»Vielen Dank«, meinte er, als er seinen Blick endlich von der Uhr lösen konnte. »Du bist sehr großzügig.«
»Gerne, Schatz. Hätte der Ferrari in die Schachtel gepasst …«
Jul lachte und zog ihren Kopf zu sich. »Irgendwann sollten wir uns über die finanziellen Belange von Adolescentia Aeterna unterhalten.« Nach diesen Worten küsste er sie.
»Das ist nicht mehr dein Problem«, verkündete sie, als sie wieder Luft bekam. »Ich habe alles im Griff.«
»Falls du Hilfe brauchst …«
»… gebe ich dir Bescheid.«
»Dann schau