»Willst du ihnen deshalb keinen freundlichen Empfang bereiten?«
»Das habe ich nicht gesagt«, sagte Anun und schüttelte den Kopf. »Aber ich will nicht, dass deine Hoffnungen enttäuscht werden. Wir wissen nicht einmal, was deine Brüder geplant haben. Ihr Neid auf dich könnte größer sein, als wir annehmen.«
Eva schnaubte. »Ich bin diejenige, die Grund zur Eifersucht hat. Schließlich hatten sie das Privileg, mit einem Vater aufzuwachsen. Sogar Jul steht dir näher als ich.« Der Stachel saß tief.
Voller Mitgefühl sah er sie an. »Als ich erfahren habe, dass deine Mutter eine Tochter erwartet, war ich mir der Gefahr für euch bewusst. Wenn ich in eurer Nähe geblieben wäre, hätte ich die Aufmerksamkeit auf euch gelenkt.«
Sie starrte den grauhaarigen Fremden auf Juls Couch an. Seine Behauptungen hatten keine Bedeutung für sie. Sie hatte ihr Leben lang ihren Vater an ihrer Seite vermisst. Punkt. »Ich verstehe trotzdem nicht, wie du uns verlassen konntest.«
»Es tut mir leid, Eva.«
Sie kniff die Augen zusammen. Eine Entschuldigung reichte nicht. »Ich will mehr von meinen Brüdern erfahren. Erzähl mir etwas über sie.«
»Später, Tochter. Jetzt pack erst mal Juls Päckchen aus.«
Eva fühlte, wie die Wut als rotglühende Welle jeden vernünftigen Gedanken auslöschte. Anun hatte kein Recht, sie so zu bevormunden. Schließlich war er ihr niemals ein Vater gewesen.
Er schien ihre Verärgerung zu spüren, denn er fügte hinzu: »Entschuldige. Ich verstehe deine Aufregung über die Tatsache, plötzlich Geschwister zu haben.«
Das war nicht der Grund, weshalb sie mehr über ihre Brüder erfahren wollte. Eva ließ ihrem Vater das oberlehrerhafte Verhalten noch einmal durchgehen. Sie visualisierte ihre Wut und stellte sich vor, die dabei entstandene Säule zusammenzudrücken. Sie sperrte das Gefühl in eine Flasche und stöpselte sie zu.
»Willst du Jul nicht erlösen? Ich glaube, er möchte endlich wissen, was du von seinen Geschenken hältst.«
Die Lichter des in rosa und violett dekorierten Raumes spiegelten sich in Juls Augen wider. Sofort regte sich Besorgnis in Eva. Rührte der Glanz seiner Pupillen von Fieber her? Zeigte der misslungene Blutaustausch noch immer Auswirkungen? »Alles in Ordnung?«, flüsterte sie.
»Ich bin fit, Schatz.« Jul zwinkerte ihr zu. »Sobald sich an meinem Zustand etwas ändert, gebe ich dir Bescheid.«
Sie glaubte ihm. Also wandte sie sich wieder ihrem Vater zu. »Ich weiß nichts über meine Halbbrüder. Nicht einmal, wie sie heißen, was für Leben sie führen. Ich weiß nichts.«
Anun seufzte. »Wenn ich dir die Lebensgeschichte jedes Einzelnen erzählen würde, säßen wir noch in einem Jahr hier.«
»Dann verrate mir etwas über meinen ältesten Bruder. Wie heißt er?«
»Adam.«
»Wie Adam und Eva?«
Anun zuckte mit den Schultern. »Die ersten Menschen im Paradies. Meine Kinder, die ein neues Zeitalter für Adolescentia Aeterna einläuten könnten. Ich fand es passend.«
»Genau. Adam und Eva. Die ersten von Gott geschaffenen Menschen. Das sagt viel mehr über dich aus, als du denkst.«
»Stelle Anun nicht infrage, Eva«, mischte Jul sich ein. »Dein Vater ist ein großer Mann. Ohne ihn würde Adolescentia Aeterna nicht mehr existieren.«
Eva konnte die dunklen Wellen spüren, die von Jul ausgesandt wurden. Er hatte Angst vor Anun! Nach all den Jahren, die Anun im Exil verbracht hatte, besaß er immer noch Macht über ihren Liebsten!
»Schon in Ordnung, Jul. Vielleicht hat meine Tochter ja Recht.« Anun lächelte Eva an, obwohl sie eine Augenbraue hob.
»Da das nun geklärt ist, verrätst du mir die Namen meiner anderen Brüder?«
»Ihre Namen beginnen alle mit A. Nach Adam kamen Aaron, Agenor, Asan, Amaro, Achilles, Ahmad, Adalberto, Alaric, Afrim, Aiden, Aramis und zuletzt Akasch.«
»Hast du einen Reim, mit dem ich mir die Namen merken kann, oder hilft da nur auswendig lernen?«
Das Gesicht ihres Vaters zeigte endlich Missfallen. »Dies ist nicht die passende Zeit für Ironie.«
»Glaub mir, das Lachen ist mir längst vergangen, Dad.«
»Dad?« Ihr Vater runzelte die Stirn.
Eva grinste schief. »Ich hab in meinen Gedanken die verschiedenen Namen für dich ausprobiert: Papsch, Vater, Erzeuger, Papa … Dad gefiel mir am besten.«
»Dann werde ich damit leben müssen.«
»Du hast keine andere Wahl.« Eva war sich nicht sicher, ob er ernsthaft darüber enttäuscht war. Sie wurde einfach nicht schlau aus Anun. Sie spürte, wie Jul erneut nach ihrer Hand griff. Diesmal ließ sie es zu. »Lassen wir das mit meinen Brüdern. Wir müssen versuchen, herauszufinden, welche Auswirkungen meine Übernahme der Führung auf Adolescentia Aeterna haben könnte. Ich habe Bedenken, dass mein Blut die Schwierigkeiten nicht langfristig lösen wird.«
»Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Jul. »Auch die anderen Brüder fühlen die Macht durch dein Blut stärker als zuvor.«
Eva strich über Juls Wange. »Ich würde das gerne genauso sehen. Aber die Regeln von Adolescentia Aeterna sehen eine Frau als Älteste nicht vor. Sie verweigern Frauen sogar die Mitgliedschaft. All die strikten Vorschriften haben vielleicht ihre Gründe.«
»Die Ewige Jugend darf sich vor den evolutionsbedingt notwendigen Anpassungen nicht verschließen.« Anun griff nach einem Keks.
Evas Augen wurden schmal. »Und das ausgerechnet aus deinem Mund! – Hast du dich bei deinen Freunden nach dem Verbleib der Prophezeiung erkundigt? Vielleicht hat mit ihr das Rätselraten ein Ende.«
»Man hat sich rund um den Globus auf die Suche nach den Aufzeichnungen gemacht. Ich schätze, dass wir bald erste Antworten erhalten werden.«
»Ich will nicht wissen, wo sich das Ding befindet. Ich will den Text lesen.« Eva seufzte. »Erkläre mir bitte noch einmal ganz genau, wie diese Unterlagen verschwinden konnten. Aus deinen vagen Andeutungen bin ich bislang nicht schlau geworden.«
Anun schlug die Beine übereinander und richtete die Bundfalte seiner Hose. »Die Unterlagen wurden in einer Höhle aufbewahrt. Den genauen Ort kannten nur einer meiner Brüder und ich. Als wir 1460 erfahren haben, dass die Besiedlung dieses Gebietes rasch voranschreitet, habe ich meinen Bruder beauftragt, die Aufzeichnungen in Sicherheit zu bringen. Er ist von seiner Reise nicht wiedergekehrt.«
»Und das war’s? Die Prophezeiung, der du dein Leben gewidmet hast, ist futsch, und du forschst nicht weiter nach?«
Der Blick ihres Vaters durchbohrte Eva. »Ich habe Jahrhunderte mit der Suche nach Jusuf und den Aufzeichnungen verbracht. Ich habe damals nicht nur wertvolles Papier, sondern auch einen Freund verloren.«
Eva wusste nicht, ob sie Mitleid mit ihm haben sollte. »Wo war Jusufs letzter Aufenthaltsort?«
»Seine Spur führte nach Afrika. Ich habe die Unterkunft gefunden, in der er die Nacht verbracht hat, nachdem ich zuletzt von ihm gehört hatte. In der Gegend existiert die Legende, dass sich ein weiser Mann mit dem Wissen von Jahrtausenden auf der Durchreise befunden hat. Er soll Kranke geheilt und Notleidenden geholfen haben. Vielleicht hat Jusuf auf diese Art versucht, eine Spur zu hinterlassen.«
Ein Bruder, der die Möglichkeiten der Macht genutzt hat, um anderen zu helfen? Dieser Mann war ihr sympathisch. »Du meinst, er hat Brotkrumen zu seinem Versteck gestreut?«
»Das ist meine Vermutung. Ich habe versucht, geheime Hinweise in den Geschichten zu finden. Bislang ohne Erfolg.«
»Bei der