Die weiteren bereits angesprochenen europäischen Vorschriften über Leerverkäufe, Prospekte und Fonds gehen dagegen wie die übrigen in diesem Abschnitt diskutierten Verordnungen und Richtlinien grundsätzlich von Regelungsgegenständen aus, ohne diese als Gefahrentatbestände zu definieren.
In einer Gesamtschau ergibt sich, dass die europäischen Regelungen zwar gefahrbezogene Aufgaben- und Befugnistatbestände in unterschiedlichen Regelungszusammenhängen definieren, aber selbst keinen einheitlichen Gefahrbegriff anstreben und insofern auch keine allgemeinen Vorgaben enthalten. Die wertende Beurteilung, die zur Ausfüllung der EU-Regelungen geboten ist, bleibt im Wesentlichen vielmehr den mitgliedstaatlichen Behörden überlassen und erfolgt eingebettet in die Regelungsstrukturen des nationalen Ordnungsrechts.
3. Deutsches Finanzaufsichtsrecht
Das deutsche Finanzaufsichtsrecht enthält an wenigen Stellen allgemeine Aufgaben- und Befugnisnormen. So kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) etwa nach § 6 Abs. 3 KWG im Rahmen der ihr zugewiesenen gesetzlichen Aufgaben „Anordnungen treffen, die geeignet und erforderlich sind, um Verstöße gegen aufsichtsrechtliche Bestimmungen zu verhindern oder zu unterbinden oder um Missstände in einem Institut zu verhindern oder zu beseitigen, welche die Sicherheit der dem Institut anvertrauten Vermögenswerte gefährden können oder die ordnungsgemäße Durchführung der Bankgeschäfte oder Finanzdienstleistungen beeinträchtigen“.688
Im Anwendungsbereich des Wertpapierhandelsgesetzes hat sie nach §§ 6, 14ff. WpHG (= §§ 4ff. WpHG a.F.) Missständen entgegenzuwirken, welche „die ordnungsgemäße Durchführung des Handels mit Finanzinstrumenten oder von Wertpapierdienstleistungen oder Wertpapiernebendienstleistungen beeinträchtigen oder erhebliche Nachteile für den Finanzmarkt bewirken können“ (so generalklauselartig § 6 [= § 4 a.F.] Abs. 1 WpHG).689 Diese Aufgabe betrifft im Einzelnen:
• „Missstände, die Nachteile für die Stabilität der Finanzmärkte bewirken oder das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte erschüttern können“ (§ 14 [= § 4a a.F.] Abs. 1 WpHG),
• Fälle, in denen Tatsachen bestehen, welche die Annahme rechtfertigen, dass ein Finanzinstrument oder eine Vermögensanlage „erhebliche Bedenken für den Anlegerschutz aufwirft oder eine Gefahr für das ordnungsgemäße Funktionieren und die Integrität der Finanz- oder Warenmärkte oder in mindestens einem Mitgliedstaat für die Stabilität des gesamten Finanzsystems [der EU] oder eines Teils davon darstellt oder [dass] ein Derivat negative Auswirkungen auf den Preisbildungsmechanismus in den zugrunde liegenden Märkten hat (Art. 42 Abs. 2 VO 600/2014 i.V.m. § 15 Abs. 1 (= § 4b Abs. 2 Nr. 1 a.F.] WpHG) und
• sonstige „Missstände“ im Rahmen der der BaFin „zugewiesenen Aufgaben“ (§ 6 [= § 4 a.F.] Abs. 1 WpHG).
Auch in diesem Zusammenhang wird aber gesetzlich nicht näher definiert, was unter Missständen, einer Gefahr für die aufsichtsrechtlichen Schutzgüter oder deren Beeinträchtigung zu verstehen ist. Die angeführten ausdrücklich definierten Gefahrentatbestände sind schließlich nicht unveränderlich, sondern wandeln sich mit der Zeit. Anhaltspunkte für Regelungsdefizite haben sich in der Finanzkrise ergeben, woraufhin auch der nationale Gesetzgeber die bis dahin bestehenden Regelungen umfassend überprüft und – auch unabhängig von Vorgaben des EU-Rechts – novelliert hat. Hinsichtlich der Frage, welche allgemeinen Gefahrprinzipien den einzelnen Aufgaben- und Befugnisnormen zugrunde liegen, bleibt nur ein Rückgriff ins allgemeine Ordnungsrecht.
II. Der Gefahrbegriff des deutschen allgemeinen Ordnungsrechts
1. Einführung
In Ermangelung höherrangiger Vorgaben oder spezieller Regelungen ist der Gefahrbegriff des allgemeinen Ordnungsrechts heranzuziehen. Danach liegt eine konkrete Gefahr bei Tatsachen vor, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit zu einem nicht unerheblichen Schaden führen.690 Eine gesteigerte Form ist die dringende Gefahr, bei der umstritten ist, ob der zu erwartende Schaden besonders groß oder sein Eintritt besonders wahrscheinlich sein muss. Zu unterscheiden ist eine abstrakte Gefahr – im Sinne einer generell vorhandenen Gefahr –, die vorliegt, wenn bei einer gedachten Mehrzahl konkret gefährlicher Sachverhalte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit dem Eintritt eines Schadens zu rechnen ist. Als für Eingriffe nicht ausreichend wird eine latente Gefahr angesehen, die sich jederzeit realisieren kann.
In allen genannten Fällen setzt eine Gefahr für geschützte Rechtsgüter somit voraus, dass die Voraussetzungen einer konkreten Gefahr in mehr oder minder weitgehendem Umfang erfüllt sind, wobei die anderen zuvor genannten Gefahrentatbestände – auf dem Begriff der konkreten Gefahr aufbauend – besondere Anforderungen an den Schadensumfang oder -eintritt stellen.
Beim Einsatz von Finanzinstrumenten ist aber außerdem zu beachten, dass eine Gefahr nicht nur in Abhängigkeit von der Risikostruktur des betreffenden Instruments entstehen kann, sondern auch abhängig davon, von wem bzw. wie bzw. in welcher Marktsituation es eingesetzt wird. Eine Regulierung mit den Mitteln des Ordnungsrechts wird dabei um so notwendiger, je schwerwiegender eventuelle Schäden sind und je wahrscheinlicher ihr Eintritt ist. Die Regulierung muss dabei dem Umstand Rechnung tragen, dass die Finanzmärkte weltweit vernetzt sind und unmittelbar auf Veränderungen in den Marktbedingungen reagieren. Das bedeutet, dass aufsichtsrechtliche Gefahren über einzelne Rechtsordnungen hinweg und schnell entstehen können.
2. Drohen eines nicht unerheblichen Schadens
Erstes Element einer aufsichtsrechtlichen Gefahr ist, dass ein nicht unerheblicher Schaden droht. Hierbei ist zu beachten, dass ein Schaden in Anbetracht der vertraglichen Risikoverteilung von vornherein nur in dem Umfang drohen kann, in dem die vertragliche Risikoverteilung nicht abschließend ist. Denn eine Gefahr für aufsichtsrechtliche Schutzgüter liegt grundsätzlich nicht vor, wo die Risiken einer Finanztransaktion sich nicht – im zuvor beschriebenen Sinne – über die Transaktionspartner hinaus negativ auswirken können.691 Die Risikoverteilung muss freilich nicht nur in Hinblick auf die beiderseitige Erfüllung des Vertrags abschließend sein, sondern auch für den Fall, dass eine solche Erfüllung scheitert (z.B. bezüglich gesetzlicher/vertraglicher Schadenersatzansprüche).
Dazu, dass ein Schaden droht, kann es nach dem zuvor Ausgeführten (Kap. 2 und Kap. 3) vor allem in den folgenden zwei Szenarien kommen:
• Risiken realisieren sich in einer Situation, in der Finanzmarktakteure durch ihre Interaktion in einer Weise verflochten sind, dass die Verflechtung im Extremfall als Element einer systemrelevanten Verflechtung anzusehen wäre (Too Connected To Fail – TCTF).
• Risiken realisieren sich in einer Situation, in der Finanzinstrumente zu ähnlich gelagerten Anlagen genutzt worden sind, sodass die betroffenen Finanzmarktakteure im Extremfall in systemrelevanter Weise gleichartigen Risiken ausgesetzt wären (Too Many To Fail – TMTF).
Dabei ist zu betonen, dass Einzeltransaktionen nicht deshalb aufsichtsrechtlich irrelevant sind, weil die Verflechtung bzw. die gleichartigen Anlagen isoliert betrachtet nur ein geringes Risikopotenzial aufweisen. Denn auch in diesem Fall liegt bei Realisierung der Risiken ein Schaden vor. Dieser Schaden mag zwar bei einzelnen Transaktionen unerheblich sein, kann bei einer Vielzahl von Transaktionen jedoch für das Gesamtsystem erheblich sein.
Die Frage, wann ein etwaiger Schaden im Rahmen der