Gianni Agnelli redete nicht über Fußball, wenn es um Geschäftliches ging. Er hielt das für unfein. Wenn ihn seine Gesprächspartner auf Juventus ansprachen, empfand er das als Anbiederei. »Man versucht da, eine Vertrautheit herzustellen, die nicht existiert.« Emblematisch aber ist die Episode um Michaíl Gorbatschow, der Turin besuchte, um Gespräche über Fiat und die Produktion in Russland zu führen. Da nahm ihn Gianni Agnelli am Morgen wie selbstverständlich mit zum Juventus-Training und fuhr wie immer selbst. Gorbatschow stieg also vor dem Trainingsgelände aus dem Auto und fragte vollkommen konsterniert den Dolmetscher: »Wissen Sie, was das soll? Was hat denn Agnelli hier auf einem Fußballplatz zu suchen?«
Anders war es mit den Arbeitern, da war Juventus die gemeinsame fidanzata, die Braut, von der beide Seiten träumten, der Fiat-Schlosser im Blaumann und der Industrielle im Kaschmirpullover. Juventus bescherte den Besitzern eine Popularität und eine »menschliche Komponente«, die sie als Industriebosse allein niemals erreicht hätten. Die Fußball-Leidenschaft schien Patron und Abhängige zeitweilig emotional auf eine Stufe zu stellen, litten und jubelten sie doch mit derselben Mannschaft. Für das Binnenklima war der Verein also wichtiger als für die Außenwirkung des Unternehmens.
Nach einem hauchdünnen Sieg seiner Juve beim AS Rom rammte der vom Spiel noch vollkommen benommene Gianni Agnelli einmal auf dem Parkplatz vor dem römischen Olympiastadion mit seinem Fiat 500 mehrere Autos. Die großzügig abgefundenen Geschädigten, allesamt Roma-Fans, zeigten Verständnis, war ihnen doch der damals mächtigste Mann Italiens als Mensch erschienen, geschwächt von jenen emotionalen Erschütterungen, die das spannende Fußballspiel, bei ihm genauso wie bei ihnen, ausgelöst hatte. Dass der Fußball alle gleich macht, ist natürlich eine Illusion, dass er das wirkungsvollste Identifikationspotenzial besitzt, war andererseits im Italien des 20. Jahrhunderts eine Tatsache. Und den Agnelli gelang noch etwas anderes. Sie übertrugen einen weit umspannenden Familiensinn etwa im Sinn einer altrömischen familia, zu der in der Antike auch die Leibeigenen gehörten, auf den Fußball. Sie »adoptierten« herausragende Spieler und vermittelten den Fans das Gefühl, ein Teil der wenn auch entfernteren Verwandtschaft zu sein. Vor allem Gianni Agnelli wollte als tifoso unter tifosi wahrgenommen werden, als »der einzige, der bezahlt«, wie er einmal betonte, aber deshalb noch lange nicht der Chef ist. Eher primus inter pares in einer Schicksalsgemeinschaft.
Gianni
Der älteste Agnelli erfand die sogenannte partitella, jenes traditionelle »kleine Match« zwischen Erster Mannschaft und Amateuren, das noch heute kurz vor jedem Liga-Saisonstart auf dem winzigen Sportplatz von Villar Perosa stattfindet. In diesem piemontesischen Dorf in der Hügellandschaft nordwestlich von Turin residieren die Erben von Fiat-Gründer Giovanni wie Feudalherren in den heißen Sommermonaten in der schlossähnlichen Rokoko-Villa ihrer Vorfahren, umgeben von einem verschwenderisch angelegten Park mit exotischen Gewächsen. Zur Mittagszeit an einem Tag Mitte August fährt vor der Villa Agnelli der Mannschaftsbus der Profis vor, bestückt mit Spielern und Trainerstab. Im Park gibt es für die kickenden Mitarbeiter üblicherweise ein Buffet und eine Ansprache des Präsidenten in Hemdsärmeln, bevor es gleich nach dem Kaffee auf den Dorfplatz unten im Tal geht. Das winzige Stadion mit seinen knapp 5000 Plätzen ist nach Gaetano Scirea benannt, dem früh verstorbenen Kapitän der Juventus in den 1980er Jahren. Aber nicht Scirea wird am Eingang gehuldigt, wo die Fans sich an zahlreichen Ständen mit Trikots, Schals, Kalendern und anderen Devotionalien eindecken können, sondern den Gebrüdern Agnelli. Eine riesige Banderole mit ihren Porträts ist über den Stadioneingang gespannt, wie ein Gruß an die beiden Toten, die längst oben auf dem Dorffriedhof ruhen.
Ein normales Fußballspiel erwartet hier niemand, es handelt sich eher um ein Familientreffen, bei dem die Fans ihre Idole tatsächlich anfassen dürfen. Ach was – anfassen: sogar ausziehen. Es gibt keine Absperrungen, die meisten Zuschauer hocken direkt am Spielfeldrand und verlangen von jedem Ausgewechselten, dass er ihnen sein Trikot überlässt. Nach dem Schlachtruf Invasione, der traditionell am Anfang der zweiten Halbzeit ertönt, strömt das Publikum dann binnen Sekunden auf den Platz und beginnt, die Spieler bis auf die Unterwäsche zu entkleiden. Die sind auf diese rüde Art der Reliquienbeschaffung vorbereitet und geben auch noch im Feinripp stoisch Autogramme. Und so ereignet sich in einem kleinen Ort in den Hügeln des Piemont ein Fest, wie es im europäischen Fußball nicht mehr vorkommt, jedenfalls nicht bei den Spitzenklubs dieser gigantischen, weitgehend globalisierten Unterhaltungsindustrie: Die Profis auf Tuchfühlung mit ihrem Anhang, eine beachtliche Demutsübung und eine nostalgische Geste aus Zeiten, da Eigner und Spieler bei den großen Klubs noch nicht Lichtjahre von ihrem Publikum entfernt waren.
Gianni Agnelli pflegte zu Villar Perosa tatsächlich eine enge Beziehung. Als junger Mann hatte er das vom Vater gegründete Kugellagerwerk geführt – mit 2500 Arbeitern die größte Fabrik der Gegend –, vor allem aber wirkte Agnelli drei Jahrzehnte als Bürgermeister. Der Avvocato, dieser Jahrhundertitaliener, ein Idol des internationalen Jet-Set, als Dorfvorsteher im Piemont, auch das war möglich in einem Land, wo die Pflege der eigenen Wurzeln nicht nur im Fußball so viel bedeutete.
Im Schneidersitz auf dem blanken Rasen schaut Gianni Agnelli seiner Juve zu
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