8000 Lire monatlich hatte Patron Agnelli dem argentinischen Stürmer gezahlt, eine astronomische Summe verglichen mit den Gehältern eines Lehrers (400 Lire) und eines Richters (1000 Lire). Der Verein gewährte seinem Star zudem eine Dienstwohnung und einen Dienstwagen – natürlich einen Fiat, Modell 509. Als Orsi einmal in Palermo von einem hartnäckigen Gegenspieler genug hatte, fragt er ihn genervt, wie viel er verdiene. 600 Lire, lautet die Antwort. Und Orsi: »Die gebe ich dir und dann zieh Leine. Fußball spielen kannst du sowieso nicht.« So viel Arroganz konnte er sich leisten. Juventus machte Raimundo Orsi groß und Mumo ließ die Juve strahlen. So groß war sein Einfluss, dass er 1931 auch seinen Landsmann Luisito Monti holen ließ, den argentinischen Vizeweltmeister von 1930. Somit spielte bei Juventus ein Trio aus argentinischen Oriundi: Orsi, Monti und Cesarini.
Rein körperlich war Monti das Gegenteil der beiden anderen. Er hatte breite Schultern, ein starkes Kreuz und, als er in Turin eintraf, deutliches Übergewicht. In Buenos Aires hatte er bereits die aktive Zeit beendet und sein Einkommen mit einer Pasta-Manufaktur aufgebessert. Neben seinen neuen Teamkollegen in Turin wirkte der 92-Kilo-Mann, als hätte man Bud Spencer ins hintere Mittelfeld gestellt. El Verdugo hatten sie ihn wegen seiner beinharten Spielweise in Argentinien genannt, den Henker. Diesem Spitznamen machte Monti auch bei Juventus weiterhin alle Ehre, der Pasta-Bauch indes verschwand. Mit einem selbstverachtenden Abmagerungsprogramm und hartem Training nahm er innerhalb kürzester Zeit 12 Kilo ab. Das reichte für die Berufung in die Squadra Azzurra, und so wurde Monti, der das Endspiel 1930 noch mit Argentinien gegen Uruguay verloren hatte, der bis heute einzige Spieler, der für zwei verschiedene Nationalteams in einem WM-Finale stand. Als Orsi und Cesarini längst über alle Berge waren, blieb er in Italien.
Die Fußballstars der Juve hätten nicht glänzen können ohne einen genialen Coach. Der Mann, dem Luisito Monti seinen zweiten Frühling verdankte und Juventus vier der fünf SerienTitel, hieß Carlo Carcano und hatte sich schon als Spieler durch seine taktische Begabung hervorgetan. Als erster Fußballer der Unione Sportiva Alessandria wurde er in die Squadra Azzurra berufen, die er 1928/29 auch kurzfristig trainierte, bevor er im Jahr darauf bei Juventus anheuerte. Carcano gilt als einer der Erfinder des Metodo, eines zwischen den Kriegen in Italien verbreiteten 2-3-2-2-1-Taktiksystems, das vor allem auf einer robusten Abwehr und schnellen Kontern beruhte. Bei der italienischen Methode handelte es sich um pragmatisch-opportunistischen Überfallfußball ohne große Schnörkel – seine Vollendung wurde später als Catenaccio weithin berüchtigt.
Carcano hielt auf eiserne Disziplin, galt aber auch als einfühlsamer Psychologe, zu einer Zeit, da dieser Begriff im Fußball noch gar nichts zu suchen hatte. Der Juve-Trainer motivierte und förderte junge Talente, unterstützte den auf Abwege geratenen Monti bei seinem Kampf um die zweite Chance, duldete die Allüren seiner Stars. 1934, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, musste er dennoch gehen. Der vierfache Juve-Meistertrainer Carcano hatte als Assistenztrainer von Vittorio Pozzo die Azzurri gerade zum Weltmeistertitel geführt, als Gerüchte über seine Homosexualität laut wurden. Der Trainer habe unerlaubte Beziehungen zu einigen Spielern unterhalten. Ja, er sei von seiner Talentsuche in Südamerika sogar mit einem jungen Geliebten heimgekehrt. Wer die Intrige anstiftete, ist nicht bekannt. Die glühenden Faschisten in der Nationalelf? Das waren namentlich die Parteimitglieder Eraldo Monzeglio (Bologna) und Attilio Ferraris (Lazio). Oder andere Spitzel des Regimes, die den Agnelli zeigen wollten, wer Herr im Haus war? Bei Juve gab es keine Spieler, die sich als Faschisten hervortaten. Anders als der FC Bologna und die beiden Hauptstadtvereine Roma und Lazio gehörte der Klub der Turiner Industriellen auch nicht zu den Favoriten des Duce. Kein Wunder, trug doch die Juventus als einziger Großverein keine faschistischen Abzeichen auf den Trikots. Und dass, obwohl sie als Nazio-Juve das Rückgrat des Weltmeisterteams von 1934 bildete. Damit nicht genug, leistete sie sich einen hartnäckigen Antifaschisten als Generaldirektor.
Der Baron Giovanni Mazzonis di Pralafera (1888–1969) war bei Juve ein mittelmäßiger Spieler mit zehn Einsätzen und null Toren in drei Jahren gewesen. Als Manager aber hatte er eine glückliche Hand und war an der Seite seines Freundes Agnelli für das goldene Jahrfünft wesentlich mitverantwortlich. Und als Edoardo 1935 starb, übernahm Mazzonis sein Erbe. Fünf Jahre lang führte er die Juve, bis er von den Faschisten aus dem Amt gejagt wurde. 1940, im Jahr des italienischen Kriegseintritts, duldete der Duce keine Quertreiber im Sport mehr.
Doch weder Mazzonis noch Edoardo Agnelli mochten ihren Trainer Carcano halten, als die Gerüchte über dessen Homosexualität lauter wurden. Homosexuelle wurden im Faschismus verfolgt, verhaftet und in die Verbannung geschickt. Dem Präsidenten blieb nichts anderes übrig, als seinen Trainer im Herbst 1934 von einem Tag auf den anderen zu entlassen, aus disziplinarischen Gründen, wie offiziell verlautbart wurde. Um das Regime offen herauszufordern, wie das sein Vater zur Durchsetzung eigener Interessen getan hatte, fehlte es dem Erben an Charakterstärke und wohl auch an Entscheidungsgewalt. Carcano, der Meistercoach, einer der intelligentesten und begabtesten Fußballlehrer seiner Zeit, versank in der Bedeutungslosigkeit der Fußballprovinz und konnte nie wieder an seine Erfolge anknüpfen.
Während der alte Agnelli der neuen »Bewegung« misstrauisch gegenüberstand und versuchte, sie für seine Zwecke zu nutzen, pflegte sein Sohn die Rituale des Regimes als hoffnungslos provinziell zu belächeln, ohne jemals öffentlich Kritik zu äußern. Edoardo Agnelli war ein weltläufiger Dandy, der mit seiner bildschönen jungen Frau, der italo-amerikanischen Prinzessin Virgina Bourbon del Monte, ein Jet-Set-Leben führte, das an Francis Scott Fitzgeralds Großen Gatsby erinnerte. Die beiden waren umschwärmter Mittelpunkt der Turiner Society, hielten aber auch in der Hauptstadt Rom Hof. Für seinen Klub gab Edoardo das Geld mit vollen Händen aus und förderte bewusst die Adepten des schönen Spiels. Fußball war für ihn auch Ästhetik. Die umwerfend elegante Virginia erschien 1932 zur JuventusMeisterfeier mit zwei Hunden in den Vereinsfarben – einem weißen Samojedenspitz und einem schwarzen Zwergpudel. Für Fußball hatte sie wenig übrig, aber als Kulisse ihrer exzentrischen Grandezza taugten die Meisterspieler allemal.
Sieben Kinder hatte das Paar, das, umsorgt von einer zahlreichen Dienerschaft, in einem gigantischen Stadtpalast mitten in Turin residierte. Susanna Agnelli, nach Clara und Gianni drittgeborenes Kind von Edoardo und Virginia, beschreibt in ihren Erinnerungen die Aufregung im Hause vor einem Abendessen mit dem Fürst von Piemont, »das gestickte, spitzenbesetzte Tischtuch, die Blumenarrangements, die mit Pralinen, Pfefferminz und Fondants gefüllten Schalen aus vergoldetem Silber und die Gläser in verschiedenen Formen und Farben, die vor jedem der mit einem zarten Rosenmuster verzierten Porzellanteller aufgereiht standen. Die kleinen Floristinnen liefen verschreckt hin und her und reichten Madame Asinari, die der Dekoration den finishing touch verlieh, Blütenzweige, während in einer Ecke ein Zimmermädchen mit dem heißen Eisen in der Hand ungeduldig darauf wartete, ein letztes Fältchen aus dem Tischtuch zu bügeln.« Wenn der Großvater kam, so Susanna, »ist alles eine Spur schlichter.« Giovanni Agnelli aß nur eine Schüssel rohes Gemüse mit Öl, trank dazu ein Glas Piemonteser Wermut »und hört im Hintergrund Schlager aus dem Radio«.
5. Juni 1919: Prinzessin Virginia Bourbon del Monte heiratet Edoardo Agnelli
Die Agnelli-Kinder wurden von einer strengen englischen Gouvernante erzogen und bekamen die Eltern nur selten zu Gesicht. Nur einmal, als 1933 Benito Mussolini zu Besuch in Turin weilte, sah Susanna Agnelli, die spätere Außenministerin der Republik Italien, ihren Vater Edoardo in faschistischer Uniform: »Er betrachtet sich im Spiegel und bricht in Lachen aus. Tagelang wird er uns die Turiner Damen in ihren albernen Baskenmützen und ihren absurden