Giovinezza, die Jugend, wurde von den Faschisten in ihrer Parteihymne besungen. Und Juventus, die Mannschaft der Jugend, fügte sich mit ihrem dynamischen Präsidenten perfekt in den italienischen Modernismus. Sie war erfolgreich, weil sie geführt wurde wie der Lingotto, das 1923 im Beisein Mussolini triumphal eröffnete Fiat-Werk im Südosten von Turin. Der Lingotto mit seinen riesigen Werkshallen, eleganten Büros und der kühnen Rennpiste auf dem Dach vor einem grandiosen Alpenpanorama galt als Meisterwerk des Rationalismus. Hier, wo in den 1930er Jahren 40.000 Arbeiter Autos für Italien bauten, schlug jenes neue, industrielle Herz, das der Faschismus für sich erobern wollte.
Edoardo Agnelli führte auch in seinem Fußballklub feste Arbeitszeiten ein. Die Spieler hatten keinen Zehnstundentag wie die Arbeiter im Lingotto, aber sie trainierten regelmäßig jeden Tag, und zwar mit einem richtigen Trainer. Der erste Profi in diesem Job wurde bei Juventus der Ungar Jenö Károly – zuvor hatten die älteren Spieler das Training quasi nebenbei geführt. Es brauchte eine Weile, bis Károly sie davon überzeugen konnte, dass ein richtiger Coach nicht nur eine Laune des Patrons war. Die sogenannte »Donau«-Schule Österreich-Ungarns dominierte damals in Europa, und Agnelli wollte den Anschluss an die Fußballavantgarde auf keinen Fall verpassen. Folgerichtig trieb Károly seinen Juve-Spielern die langen Bälle aus und vermittelte ihnen einen Hauch von Taktik. Und das, obwohl er anfangs kein Wort Italienisch sprach. Doch der Trainer wusste sich zu helfen, er stellte die jeweiligen Spielsituationen einfach persönlich nach. Und er bestand auf Verstärkung, die ihm sein reicher Boss großzügig gewährte. Mit József Viola und der »Gazelle« Ferenc Hirzer, einem Elektriker aus Budapest mit überaus feinen Füßen, spielten bald zwei Landsleute des Trainers für Juve und Hirzers Tore brachten 1926 den ersehnten Titel. Tragisch für Károly, dass er die Meisterfeier nicht mehr erleben durfte – er starb kurz zuvor mit 40 Jahren an einem Herzinfarkt. Jenö Károly hatte sich für Juventus buchstäblich totgearbeitet.
Es sollte Jahre dauern bis zur nächsten Trophäe, doch der Grundstein für den Erfolg war gelegt. Edoardo machte aus Juve una Weltanschauung, wie der Familienchronist Italo Pietra befand, einen Klub, »der nach Hochtälern roch, nach altem Piemont, nach altem Aplomb. Wenn sie zum ersten Mal den Vereinssitz betraten, überkam die Spieler angesichts der ehrfurchtgebietenden Ledersessel, des gebohnerten Parketts, der feierlichen, nur durch das Ticken der Wanduhr unterbrochenen Stille eine heilige Furcht.« Der »Juve-Stil« war erfunden, ein wenig blasiert, sehr gediegen und unerbittlich streng. Sein Motto umfasste die drei S von Semplicità, Serietà, Sobrietà (Einfachheit, Ernsthaftigkeit, Zurückhaltung). Agnelli bot viel und verlangte noch mehr.
Aber wer sich bei Juve durchsetzen konnte, der hatte ausgesorgt. Die gut bezahlten Profis erwiesen sich als kluge Geschäftsmänner. Giampiero Combi, die erste echte Nummer 1 bei Madama, Torwart von 1921 bis 1934, betrieb bereits als Aktiver ein Café an der Ecke Via Roma/Piazza Castello, mitten im eleganten Zentrum Turins. Man erzählte sich, dass Combi gern ein Gläschen Wein in der eigenen Bar konsumierte, seiner beeindruckenden Kondition tat das jedoch keinen Abbruch. Der Schlussmann wurde der Garant für fünf Meistertitel, gewann 1934 mit Italien die Weltmeisterschaft – und fiel in all den Jahren nur an neun Spieltagen aus. Knapp 90 Jahre lang hielt Juves erster Star im Tor den Vereinsrekord der Unschlagbarkeit, bis er von Gianluigi Buffon entthront wurde. Gemeinsam mit Virginio Rosetta und Umberto Caligaris bildete Combi eine der besten Verteidigungslinien der Fußballgeschichte, genannt »das Buchhalter-Trio«, weil alle drei tatsächlich eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung hatten. Rosetta, den Agnelli 1924 für seinerzeit unerhörte 50.000 Lire dem Provinzklub Pro Vercelli abgehandelt hatte, gehörte eine Eisdiele zwischen Porta Nuova und dem Po.
Komplettiert wurde die blühende Juventus-Gastronomie von Renato Cesarini, dem 1929 in Turin angeheuerten italoargentinischen Angreifer. Nach ihm wird bis heute die Schlussphase des Spiels als Zona Cesarini bezeichnet: Cesarini-Zone, weil dieser Spieler bevorzugt in den allerletzten Minuten traf. Kein Wunder, denn der in Buenos Aires aufgewachsene, lebenslustige Renato war eine Nachteule, ein Mann der späten Tore wie der späten Stunden. Mit dem Geld, das er in Turin anhäufte, eröffnete er über dem Café von Torwart Combi einen Nachtklub, wo er sich allzu gern persönlich um seine Gäste kümmerte.
So geschah es, dass Cesarini gelegentlich im Pyjama zum Training erschien, weil er es zwar gerade noch geschafft hatte, sich aus dem Bett zu schwingen, nicht aber auch noch, sich anzuziehen. Man verzieh es ihm, wie man auch dem größten Star Turins und Italiens verzieh, dass er nach verrichteter Arbeit in Renato Cesarinis Klub die Geige spielte. Ja, das piemontesische Wunderteam der 1930er Jahre bestand tatsächlich aus Männern, die nach dem Fußball nicht nur Tango tanzten, sondern ihn auch zu spielen wussten. Ob Präsident Agnelli jemals der Violine von Raimundo Mumo Orsi gelauscht hat, ist nicht überliefert. Aber wahrscheinlich ist es schon. Denn Agnelli liebte jene Bohemiens, die seine Juventus erfolgreich machten, ihr aber auch einen Glanz verliehen, der auf ihn zurückfiel.
Orsi war der erste Fußballer, der zum Idol zweier Kontinente avancierte. Als er 1928 aus Argentinien nach Turin kam, galt er als stärkster Linksaußen der Welt. Mit der Albiceleste, der argentinischen Nationalmannschaft im schon damals weißhimmelblauen Trikot, war der Sohn italienischer Auswanderer zuvor bei den Olympischen Spielen in Amsterdam gefeiert worden, da hatten die Talentsucher Edoardo Agnellis ihn längst im Visier. Um Mumo ins Piemont zu holen, warf Agnelli sein ganzes Gewicht als Großindustrieller in die Waagschale. Seit 1926 galt die »Carta von Viareggio«, die den Transfer von Ausländern für Italiens Fußball verbot. Aber Orsi, so die Argumentation der Agnelli, sei ja gar kein Ausländer, sondern ein Oriundo, ein im Ausland aufgewachsenes Kind italienischer Eltern, also eigentlich ein Italiener, der ins Land der Väter heimkehre.
Der faschistische Verbandschef fand das einleuchtend, gab es doch in Südamerika zuhauf Talente mit italienischen Wurzeln, die dem Sport daheim auf die Beine helfen konnten. In Argentinien wimmelte es von italienischen Emigranten vor allem aus dem bitterarmen Venetien; São Paulo in Brasilien war quasi eine italienische Stadt. Die Argentinier ließen Orsi für die Rekordsumme von 100.000 Lire gehen, die höchste, die damals für einen Südamerikaner gezahlt wurde. Sicher auch ein »politischer« Preis, denn an diesem Ausnahmespieler manifestierte sich ein schon länger schwelender Konflikt zwischen Italienern und Südamerikanern. Bereits 1923 hatte Meister CFC Genua eine Tournee durch Brasilien, Uruguay und Argentinien absolviert, versehen mit dem Doppelsegen des Duce und des Papstes. Das technische Können und die Laufgeschwindigkeit der Südamerikaner beeindruckten die Italiener, und sie starteten Abwerbeversuche, hinter denen die argentinische Presse Mussolini persönlich vermutete: »Die faschistische Regierung will unsere Spieler an ihre Vereine binden, um vor aller Welt mit dem faschistischen Fußball zu prahlen!« Das war nur leicht übertrieben und zeigte deutlich den Konflikt zwischen alter und neuer Fußballwelt. In Italien blieb die Trophäe Mumo allerdings ein ganzes Jahr gesperrt, erst 1929 durfte er für Juventus auflaufen, um mit seiner technischen Klasse und Wendigkeit alle Erwartungen zu erfüllen. Für die Fans wurde der schmale Mann mit den schwarzen Mandelaugen »die Gazelle«.
Drei Monate nach seinem Einstand für den Klub trug Orsi schon das Trikot der Nationalmannschaft. Der Verband hatte Wind davon bekommen, dass der Vater des neuen Juve-Stars im Krieg mit dem Schiff in die alte Heimat gereist war, um gegen die Österreicher zu kämpfen. Gleich hieß es: »Wer gut genug ist, die Uniform anzulegen, um für Italien auf einem Schlachtfeld zu sterben, der kann erst recht unsere Flagge auf friedlichen Sportplätzen verteidigen.« Am 6. Dezember 1929