DIE HEIMLICHE KÖNIGSFAMILIE UND IHRE PRINZESSIN
Wie der Fiat-Clan Agnelli mit seinem Fußballklub verschmilzt
Die Agnelli haben den Mäzenatenfußball nicht erfunden, denn kaum war dieser Ballsport in der Welt, da investierten reiche und mächtige Männer in ihr Hobby und lernten schnell, es auch für ihre eigene Popularität zu nutzen. Doch wenn die Turiner Familie auch nicht die erste war, so blieb sie doch die hartnäckigste: seit 1923 gab sie Juventus nicht aus der Hand. Längst hält sie einen einsamen Weltrekord, kein anderer Sportklub befindet sich derart lange im Besitz einer einzigen Familie. Fiat, Agnelli, Juventus, dieser Dreiklang ist einzigartig. Er tönt bis heute, in die dritte und vierte Generation. Die Agnelli steuerten ihren Klub durch den Faschismus, durch Krieg und Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Rezession, durch Triumphe, Tragödien und Skandale. Am Anfang des 21. Jahrhunderts bilden sie ein Bollwerk gegen den Ausverkauf italienischer Traditionsvereine. Mittlerweile zur Clanstärke angewachsen, nutzen sie das klubeigene Stadion in jedem Sommer zu einem ganz besonderen Fußballspiel. Agnelli gegen Nasi: die Nachfahren von Edoardo Agnelli, dem ersten Juve-Präsidenten, gegen die Nachkommen seiner Schwester Aniceta (1889–1928) und des Barons Carlo Nasi (1877–1935). Am Ende gewinnt bei diesem Match immer die Familie.
Giovanni und Edoardo
1923–1945
Als sich Giovanni Agnelli entschloss, den Fußballklub Juventus zu übernehmen und seinen Sohn Edoardo zum ersten Klubpräsidenten der Familie zu machen, regierte in Rom seit wenigen Monaten Benito Mussolini. Die Schergen des Duce hatten auch die wichtige Industriestadt Turin in der Zange, sie ermordeten dort in einem einzigen Winter elf Antifaschisten. Das Klima in der Stadt, einer Metropole der italienischen Arbeiterbewegung mit nunmehr einer halben Million Einwohnern und 12.000 Industrieunternehmen, war gespannt. Es gab Straßenkämpfe, Verfolgung, Repressalien. Und der Fußball wurde als eskapistisches Freizeitvergnügen und identitätsstiftendes Element jenseits der Politik immer wichtiger.
Juventus war damals außerhalb der Stadtgrenzen so gut wie unbekannt, ein Klub unter vielen im prosperierenden Norden Italiens, dessen Liga sich als Fußballitalien definierte und wo sich langsam so etwas wie eine Fußballelite herausbildete. Dazu gehörten die Turiner Klubs noch nicht, anders als die Mailänder Vereine und der CFC Genua. Doch Edoardo Agnelli sollte sich sofort daran machen, zur Konkurrenz aufzuschließen und den obersten Grundsatz der aufstrebenden Unterhaltungsindustrie zu markieren: Geld schießt Tore.
Dabei war er nicht der erste Industrielle, der in den Fußball einstieg. Bereits 1908 hatte der Reifenfabrikant Piero Pirelli die Associazione Calcio Milan übernommen. Noch im selben Jahr spaltete sich der Klub; die Abtrünnigen gründeten dann den FC Internazionale. Milan-Patron Pirelli ließ das Stadion von San Siro bauen – und stattete es prompt mit Banderolen aus, auf denen sein Firmenname prangte. Erstmals war ein italienischer Klub Werbeträger eines Industrieunternehmens, ein Beispiel, das rasch Schule machte. Genau wie Edoardo Agnelli war Piero Pirelli der Sohn des Firmengründers. Und genau wie der »Erbprinz« aus Turin durfte er sich ganz auf den Fußball konzentrieren, bevor er 1932 vom Vater den Reifenkonzern übernehmen musste. Während den deutschen Vereinen noch der Amateur-Muff der Turnväter anhaftete, entdeckten Italiens Industriekapitäne den Fußball schon früh für die Corporate Identity ihrer Unternehmen.
Im Norden des bitterarmen Agrarlandes schickten sie sich an, die Rolle der adligen Feudalherren zu übernehmen. Doch im Unterschied zu den Baronen Siziliens und Kampaniens, die ihre Latifundien Verwaltern übergaben, um in Palermo oder Neapel ein dekadentes Leben voller Nostalgie nach der glanzvollen Vergangenheit ihrer Familien zu führen, bildeten die Industriellen in Mailand und Turin eine moderne Elite. Sie orientierten sich am Ausland und unternahmen ausgedehnte Bildungsreisen nach England und vor allem in die USA. Sie fühlten sich als Avantgarde in einem soeben erst geeinten Land tief katholischer, reaktionärer Großbauern und einer kaum alphabetisierten Unterschicht. Und was war moderner als dieser englische Ballsport, der zunehmend die Massen begeisterte? Der Mannschaftssport Fußball entwickelte sich zur idealen Projektionsfläche der aufstrebenden Industriegesellschaft, arbeiteten doch in einer Elf alle für einen und einer für alle. Und dahinter stand der Patron, der mit seiner Mannschaft fieberte und für das Vergnügen aller zahlte. Für den Fiat-Gründer Giovanni Agnelli war der Fußballklub nur ein Teil in einem modernen Feudalreich aus Industrie, Medien und Sport, ein Mosaikstück bei der Eroberung einer ganzen Stadt.
Über seinen 1892 geborenen Sohn Edoardo wurde in Turin gespottet, seine Jacken seien eleganter als seine Gedanken, womit er seinem Vater Giovanni immerhin den Chic der Garderobe vorausgehabt hätte. Eleganz war für den Alten eine überflüssige Eigenschaft, die nur vom Streben nach Erfolg ablenkte. Als einziger Sohn und designierter Erbe stand Edoardo unter der Fuchtel seines autoritären und erfolgsbesessenen Vaters. Nicht, dass er sich dagegen auflehnte – er genoss durchaus die vom Vater garantierten Privilegien. Seine Rebellion bestand vor allem darin, den spartanischen Lebensstil des Patriarchen abzulehnen.
Als Reiteroffizier musste Edoardo in den Krieg ziehen, aber natürlich war der Fiat-Erbe kein gewöhnlicher Soldat: Fernab der Schlachtfelder machte er sich als Chauffeur eines Generals nützlich. Kaum war der Frieden da und sein Jura-Studium abgeschlossen, reiste er durch die Welt, um seinen Horizont zu erweitern. Zurück in Turin bestellte der Senior seinen einzigen Sohn umgehend überall zum Stellvertreter, bei Fiat, im Unternehmerrat und bei der Tageszeitung »La Stampa«. Doch Edoardo suchte und fand ein eigenes Betätigungsfeld, was den Vater nicht im geringsten interessierte und wo er sich deshalb auch nicht einmischte: im Sport. Giovanni Agnelli war ein Mann des 19. Jahrhunderts, sein Sohn hingegen zeigte sich empfindlich für den Zeitgeist. Und der war bestimmt von der futuristischen Maschinenschwärmerei und dem Eklektizismus der Faschisten.
Rasch entdeckte der Faschismus auch den Sport für sich. Körperliche Ertüchtigung spielte eine entscheidende Rolle, wegen des Gemeinschaftsgefühls, als spielerische Variante militärischen Drills und weil sie die Kontrolle jener sehr knappen Freizeit ermöglichte, die das Regime den Italienern überhaupt erst ermöglicht hatte. Der freie Samstagnachmittag wurde eingerichtet, il sabato fascista, mit Sport unter Partei-»Kameraden« als bevorzugter Beschäftigung. Daneben förderte das Regime durchaus den Profifußball, obwohl Mussolini das »englische Spiel« selbst verabscheute –, was ihn aber nicht davon abhielt, große Auftritte in Fußballstadien zu absolvieren, denn dieses diabolische Kommunikationsgenie hatte das propagandistische Potenzial des populären Spektakels rasch erkannt. Und so wurden bald in ganz Italien Stadien nach ihm benannt, auch in Turin. Ursprünglich erbaut für Leichtathletikwettkämpfe wurde die Arena Benito Mussolini mit ihren 65.000 Plätzen die Heimstatt für Juventus und den FC Torino, später avancierte sie auch zum Austragungsort einiger Spiele der WM 1934. Für die Olympischen Winterspiele 2006 erfolgte eine umfassende Renovierung, heute heißt das Stadion Stadio Olimpico Grande Torino und ist die Heimstatt des Toro.
Juventus wuchs mit den Agnelli ebenso rasant wie die Fiat-Werke. Aus dem Klub der Gymnasiasten wurde ein Verein, der bald an die Spitze strebte und landesweit Bekanntheit erlangte. Das lag vor allem an einer beeindruckenden Erfolgsserie, aber auch an der Expansion des Fußballs selbst. Das faschistische Regime duldete nicht länger die Teilung in Nord- und Südliga, im Jahr 1930 wurde erstmals eine landesweite Meisterschaft ausgetragen, es entstand die Serie A. Zwar dominierte