Unterstützt wurden die Jungen von den Brüdern Eugenio und Enrico Canfari, erfindungsreichen Unternehmern, die in der Nähe eine Fahrrad-Werkstatt betrieben und damit nicht schlecht verdienten, schließlich fuhr man in Turin noch ganz überwiegend Rad statt Auto. Die Brüder Canfari fungierten prompt abwechselnd als Präsidenten, denn sie waren zwar auch nur ein paar Jahre älter als die Gymnasiasten – aber doch wenigstens volljährig. Bevor Juve zum Hätschelkind der Fiat-Bosse wurde, lenkten also Fußball-begeisterte FahrradMechaniker ihre Geschicke. Enrico Canfari mutierte später vom Fußballer zum Referee und wurde schließlich Präsident der Schiedsrichter-Vereinigung. Das alles zu Zeiten, als der Fußball noch ein Nischensport war, ein Hobby der Intellektuellen und der Bohemiens, wie es ausdrücklich im Vereinsstatut der Juventus hieß, getrieben von der Freude am Spiel und hehren sportlichen Idealen.
In diesem Geist fand auf einem Rasenplatz hinter dem Bahnhof Porta Susa am 8. Mai 1898 die erste italienische »Meisterschaft« statt. Teilnehmer bei dem Miniturnier waren nur vier Mannschaften, drei davon aus Turin. Etwa 50 Zuschauer waren am Morgen zugegen, beim »Großen Finale« am Nachmittag wurden es schon doppelt so viele. Es gewann das einzige auswärtige Team, der CFC Genua. Dem Lokalblatt »La Stampa« war die Ankündigung des Turniers noch neun Zeilen wert gewesen – über das Ergebnis wurde schon gar nicht mehr berichtet. Das änderte sich auch nicht, als Juventus vier Jahre später erstmals das Endspiel erreichte. Genua gewann 3:0. Aber die Mannschaft der Pennäler hatte sich etabliert. Zeit, die so wenig sportliche Spielkleidung der rosa Hemden mit schwarzer Krawatte gegen schnittige Trikots auszutauschen, selbstredend made in England.
Gordon Savage, den alle John nannten, bot sich an, die Hemden in seiner Heimatstadt Nottingham zu besorgen. Savage, Jahrgang 1869, war der erste Ausländer im Juventus-Team und obwohl er in seiner Rolle als Angreifer kein einziges Tor erzielte, galt seine Autorität in allen Fußballfragen als unstrittig. Er war Engländer, das musste reichen. In der Trikotgeschichte unterlief ihm indes ein folgenreicher Fauxpas, denn als das ersehnte Paket nach Monaten gespannter Erwartung schließlich in Turin eintraf, war die Enttäuschung groß. Statt der erwarteten roten Hemden von Nottingham Forest lagen schwarzweiß gestreifte Trikots von Notts County in der Kiste. Notts County! Das war ganz klar englisch, aber zweifellos schon damals nicht besonders famos. Die Italiener schluckten tapfer und zogen die Zebrahemden über. Fortan sollte Juventus bianconera bleiben und aufsteigen zum berühmtesten Schwarzweiß-Klub der Welt. Die Kontakte zum inzwischen unterklassigen Notts County bestehen bis heute.
Tatsächlich brachten die neuen Hemden bald Glück: 1905 holte der Turiner Schülerklub den ersten Meistertitel. Und diesmal fühlte »La Stampa« sich verpflichtet, der werten Leserschaft zu erklären, worum es sich bei diesem »football« überhaupt handelt: »Es ist eine jener Sportarten, die unter freiem Himmel stattfinden. Die Spieler sind enthusiastische Amateure, die diesen Sport zu ihrer körperlichen Ertüchtigung betreiben, zur Kräftigung ihrer Jugend.« Juventus gewann mit klugem Konterfußball, schon damals ihr Markenzeichen. Während Genua auf die klassisch englische Offensive setzte und die Mailänder kernig schweizerisch antraten, verließen sich die Schwarzweißen lieber auf eine solide Defensive. Damit war der calcio all’italiana in Turin erfunden.
Juventus’ erster Meisterpräsident war allerdings Schweizer. Mit großem Einsatz und Ehrgeiz trachtete der Lederwarenfabrikant Alfredo Dick danach, aus dem Hobbyverein der Pennäler ein professionelles Unternehmen zu machen. Dick heuerte noch mehr Ausländer an, mietete mit dem Velodrom Umberto I einen geeigneten Platz für Training und Heimspiele und erließ einen strikten Regelkanon für alle. Dass er darin allzu ausgiebige Siegesfeiern verbot, wurde ihm zum Verhängnis: Nach nur einem Jahr an der Spitze wählte der Vorstand ihn ab. Wutentbrannt gründete der Schweizer prompt einen Konkurrenzverein – den FC Torino – und forderte die Juventus-Spieler auf, zu ihm zu wechseln. Wer das nicht tat und unglücklicherweise bei dem Industriellen als Arbeiter unter Vertrag stand, wurde gefeuert. Juventus musste sich nicht nur einige neue Spieler, sondern auch eine neue Arena suchen, denn im Velodrom kickte fortan der Toro. Im ersten Derby gegen die neuen Lokalrivalen unterlagen die Bianconeri schmachvoll 1:2.
Die Derbyniederlage war ein klares Zeichen: Die Konkurrenz schlief nicht. Überall in Norditalien, besonders innerhalb des Dreiecks Turin-Mailand-Genua, entstanden jetzt neue Klubs, und Juventus sollte bald hinter ihnen das Nachsehen haben. Das Freizeitvergnügen für Studenten war nicht mehr zeitgemäß, eine straffe Vereinsstruktur und ein finanzstarker Präsident mussten her, um das Überleben zu sichern. Erst einmal wechselten an der Klubspitze ehemalige Spieler wie Giuseppe Hess (1913–1915) und Literaten wie Corrado Corradino (1919–1920) – und der zweite Meistertitel ließ auf sich warten. Hess, Sohn eines nach Turin emigrierten deutschen Ehepaares, war ein mittelmäßiger Verteidiger und agierte auch als Vorsitzender ohne Ehrgeiz und Visionen. Poeten-Präsident Corradino hingegen schrieb immerhin eine Vereinshymne voller Kitsch und Pathos und gründete das Klubmagazin »Hurrà Juventus.« Später wurde »Hurrà« eine Hochglanz-Monatszeitschrift, heute ist es ein zweisprachig italienisch-englisches Jahrbuch, das Juventus unter dem Titel J-Hurrà Juventus herausgibt. Damals fungierte das Blatt im Zeitungsformat als Bulletin für die Sportsfreunde im Krieg, als »Hommage der Juventini in Turin an ihre Kameraden an der Front«, wie der Untertitel verkündete. Darauf bezog sich auch der martialische Name, der gerade als italienischer Schlachtenruf Furore machte.
Damals waren 177 Vereinsmitglieder Soldaten, der Klub hatte das friedliche und elitäre Umfeld des Liceo d’Azeglio also endgültig verlassen. Fußball war in Italien zwar immer noch nicht so populär wie der Radsport, aber durchaus auf dem Weg zum Massenspektakel. Als die italienische Nationalmannschaft 1910 in Mailand gegen Frankreich ihr erstes Spiel austrug, kamen 4000 Zuschauer. Nur vier Jahre später waren es bei der Wiederauflage in Turin schon 15.000. Der Fußball eroberte Italien und ließ sich dabei trotz Unterbrechung des offiziellen Spielbetriebs auch vom Ersten Weltkrieg nicht aufhalten. In der vor allem in Norditalien aufblühenden Sportpresse – Marktführer damals wie heute die 1896 in Mailand gegründete »Gazzetta dello Sport« – wurde Fußball immer wichtiger. Vom siebten Platz, hinter Radsport, Jagd, Schießen, Gymnastik, Reitsport und Bergsteigen, pirschte sich der englische Ballsport unaufhaltsam nach vorn. Und so gab es bereits 1913 zwei Fachmagazine, »Football« und »Calcio« genannt, wobei letzteres dem importierten Sport dann auch seinen italienischen Namen gab, von calciare, treten.
Ob »Football« oder »Calcio«, Anhänger fand er jetzt überall. Unter ihnen auch den Politiker und Philosophen Antonio Gramsci, der als Mitbegründer der Kommunistischen Partei den Fiat-Patron Agnelli und seinen Sohn, den künftigen Juve-Präsidenten, gern als »Großbanditen der Industrie« bezeichnete. 1918 verfasste Gramsci einen kleinen Aufsatz zum Thema »Der Fußball und das Kartenspiel«, in dem er das Ballspiel als das in jeder Hinsicht weitaus gesündere Vergnügen für die Arbeiterklasse anpries: »Beim Kartenspiel hat es nicht selten zum Abschluss eine Leiche gegeben oder doch wenigstens eingeschlagene Köpfe. Man hat noch nie gehört, dass sich solches bei einer Football-Partie ereignete.« Spielt Fußball statt Karten, lautete also der Rat des Arbeiterführers Gramsci. Ob er allerdings selbst zum Fußball ging oder gar spielte, ist nicht überliefert.
Je größer die Massen in den Stadien wurden, desto weniger sah man jedoch Frauen im Publikum, die in den Pionierjahren so selbstverständlich dabei gewesen waren. Nur in Turin, der Heimat von Madama Juventus, blieb das Interesse der Frauen am Fußball ungebrochen. Für einen eleganten Vereinswimpel betrieben die Damen der Gesellschaft sogar eine Kollekte. 16 verheiratete und 17 unverheiratete Turiner Ladys, unter letzteren ein höchst seltenes Exemplar mit eigenem Professorentitel, unterzeichneten einen Aufruf, in dem der Wimpel »als unabdingbar für alle freudigen und traurigen Gelegenheiten« bezeichnet wurde.
Weit wichtiger als ein Stück Stoff wurde nach dem Krieg eine neue Spielstätte. Damit verewigte sich in Turin ein Mann, der nur wenige Jahre später aus dem Land fliehen musste: Gino Olivetti, ein weltläufiger Jurist und Ökonom jüdischer Herkunft, Parlamentsabgeordneter und Gründer des italienischen Industriellenverbandes.